Die Fabrik
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren auch in Braunschweig viele Industriebetriebe entstanden. Die Arbeitsbedingungen waren jedoch recht unterschiedlich. So gab es zum einen den Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau (Büssing, Jüdel, Luther, Wilke, Amme/Giesecke/ Konegen) mit einer breiten Palette an handwerklich orientierter qualifizierter Arbeit. Die Jutespinnerei hingegen beschäftigten Hunderte ungelernter Arbeiterinnen. Die Konservenindustrie belebte zwar die Metallverarbeitung, die Arbeit lag aber vor allem im Herrichten der Agrarprodukte und wurde hauptsächlich von Frauen in Saison- oder Heimarbeit erledigt.
Die Industriearbeiterschaft wehrte sich gegen geringe Löhne, Akkordarbeit, lange Arbeitszeiten, konjunkturelle Erwerbslosigkeit und autoritäre Betriebsführungen immer häufiger mit Streiks und Demonstrationen.
Die Gewerkschaftsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Im März 1892 fasste der von der Generalkommission nach Halberstadt einberufene Gewerkschaftskongress einen richtungsweisenden Beschluss. Nach heftigen Debatten sprach sich die Mehrheit der Delegierten für die Bildung von Zentralverbänden aus. Die lokale Organisationsform und das Vertrauensmännersystem sollten aufgelöst werden. Doch mit der Entscheidung von Halberstadt waren längst nicht alle Organisationsfragen beantwortet. Nicht entschieden etwa wurde die Frage, ob Gewerkschaften Berufsverbände oder Industrieverbände werden sollten, sich also am ständischen Handwerk oder den neuen Industriebetrieben orientieren sollten. In einem Industriebetrieb arbeiten oft verschiedenste Gewerke gemeinsam. Daher die Forderung: Ein Betrieb – eine Gewerkschaft!
Der Deutsche Metallarbeiterverband mit über 500.000 Mitgliedern war der größte Einzelverband der Freien Gewerkschaften, gefolgt von den Verbänden der Bauarbeiter, der Bergleute, der Holzarbeiter und der Textilarbeiter.
Die deutsche Gewerkschaftsbewegung war seit dem 19. Jahrhundert in eine liberale, eine christliche und eine sozialistische („Freie“) Richtung gespalten.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bezeichneten sich selbst als „volkstümlich-freiheitlich“ oder „freiheitlich-national” und mit dem „Eintritt in den Gewerkverein bekennt sich jeder als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen”.
Wegweisend für die Gründung christlicher Gewerkschaften war eine Enzyklika des Papstes, der sich 1891 für Sozialreformen aus christlicher Nächstenliebe und für die Gründung christlicher Arbeitervereine ausgesprochen hatte. Auf dem Krefelder Kongress 1901 gründeten 23 Organisationen mit etwa 84.000 Mitgliedern den Gesamtverband.
Außerdem gab es noch die sogenannten „gelben Gewerkschaften“. Sie wandten sich gegen die von den „roten Gewerkschaften“ vertretenen sozialistischen oder sozialdemokratischen Ideen. Sie stellten eine Vereinigung von Arbeitnehmern dar, die den gewerkschaftlichen Kampf ablehnten, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Unternehmern anstrebten und von diesen moralisch und finanziell unterstützt wurden.
In Deutschland kam es um 1905 zur Gründung erster gelber Gewerkschaften, so zum Beispiel bei Siemens oder unter Metallarbeitern in Augsburg. Kurz nach der Revolution verpflichteten sich die damaligen deutschen Arbeitgeberverbände im Stinnes-Legien-Abkommen, ihre bisherige Unterstützung für die gelben Gewerkschaften einzustellen.
In der Weimarer Republik hatten die Freien Gewerkschaften, die sich im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossen hatten, die meisten Mitglieder. Der ADGB war ein Zusammenschluss von 52 Gewerkschaften und durch Kooperationsverträge mit dem Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB) verbunden. Seinen Namen mit dem Zusatz „Allgemeiner“ erhielt er, da im März 1919 die christlichen und liberalen Gewerkschaften mit der Gründung eines eigenen Dachverbandes den Namen Deutscher Gewerkschaftsbund bereits besetzt hatten.
Gewerkschaften und der Kampf um soziale Rechte
Eine Form demokratischer Mitbestimmung im Betrieb war um die Jahrhundertwende kaum vorgesehen. Voraussetzung für die Gegenwehr gegen die schlechten Arbeitsbedingungen bildete ein bereits hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad:
1907 waren im Herzogtum Braunschweig 37 Prozent der IndustriearbeiterInnen gewerkschaftlich organisiert. Im Jahr zuvor kam es zu rund 1.000 Streiktagen. Dagegen setzten die Unternehmer sechs
Aussperrungen und das Herzogtum sieben Polizeieinsätze sowie sechs Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
1910 wurden 25 Streiks durchgeführt. Bestreikte Unternehmen versuchten durch die Anwerbung von Arbeitern außerhalb des Braunschweiger Landes, die Streiks zu unterlaufen. Für die streikenden ArbeiterInnen waren das Streikbrecher. Sie wehrten sich, indem sie mit Aktionsgruppen die Fremden am Bahnhof in Empfang nahmen, über ihre Streikziele aufklärten und an der Arbeitsaufnahme hinderten.
Streik oder nicht Streik?
Mit der Zentralisierung von Gewerkschaften im Verlauf der Jahrzehnte vor dem Krieg konnte durch überbetrieblich und überregional organisierte Arbeitskämpfe die soziale Lage der lohnabhängigen Menschen allmählich verbessert werden.
Doch zu Beginn des Krieges versagten die Gewerkschaften ebenso wie die große Arbeiterpartei SPD. Die Spitzenfunktionäre der Arbeiterorganisationen hatten sich seit August 1914 in die nationalistische Kriegsbegeisterung eingereiht. Im sogenannten „Burgfrieden“ beschlossen sie, nicht mehr zu Streiks aufzurufen. Als Gegenleistung wurden Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre nicht nur vom Kriegsdienst an der Front freigestellt, sondern erhielten mit dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ ab 1916 in den sogenannten Kriegsausschüssen auch ein beschränktes Mitspracherecht in der Organisation der Kriegswirtschaft.
Dennoch wurden Streiks zum Beispiel von den Jugendlichen des Braunschweiger „Bildungsvereins“ initiiert oder entstanden spontan. In Berlin und an anderen Orten wurden Streiks autonom organisiert, später politisierte sich die Bewegung und es entstand das Netzwerk der Revolutionären Obleute. Die Braunschweiger Oppositionellen hatten Kontakte zu den Berlinern. Auch in den Braunschweiger Betrieben wurden informelle Strukturen der Arbeiterorganisation aufgebaut.
Die betriebliche Arbeiteropposition beruhte auf einem illegalen Vertrauensleutesystem mit einem Exekutivausschuss, der sich nach den großen Streiks im August 1917 gebildet hatte. Gleichzeitig blieb die
Arbeiteropposition unter dem organisatorischen Dach der USPD.
Streiks in Braunschweig
Mai 1916: „Sparzwangstreik“
Nach einem Erlass der Militärregierung in Hannover, in Arbeiterkreisen kurz „Sparzwangverordnung“ genannt, sollten alle Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren den größten Teil ihres Lohnes als Sparguthaben festlegen. Die Arbeiterjugend Braunschweigs protestierte. Sie mobilisierte am 01. Mai 1916 den Protest auf den Straßen und rief zu Streiks auf. Den Protesten schlossen sich spontan viele Frauen an, die sich aufgrund des stundenlangen Anstehens nach Lebensmitteln bei gleichzeitig unzureichender
und sichtlich ungerechter Lebensmittelverteilung lautstark empörten.
Eine zweite Streikversammlung fand 02. Mai 1916 im „Ölper Waldhaus“ statt. Die Demonstrationen dauerten noch weitere Tage an, in deren Verlauf Lebensmittelgeschäfte geplündert, Fensterscheiben von 70 Privathäusern und 25 Geschäfte demoliert wurden. Die Regierung setzte Militär ein. Nach einigem Zögern schlossen sich die Gewerkschaften den Protesten an und drohten mit einem Generalstreik. Daraufhin zogen die Militärbehörden den Erlass am 06. Mai 1916 wieder zurück. Der erfolgreiche „Sparzwangstreik“ wurde in der Arbeiterbewegung reichsweit als großer Erfolg gefeiert.
Juni 1916: „Liebknecht-Solidaritätsstreik“
Karl Liebknecht war aufgrund seiner Reden gegen den Krieg wegen Hochverrats verhaftet und zu 4 Jahren und 1 Monat Festungshaft verurteilt worden. In Braunschweig streikten rund 9.000 Arbeiter aus den meisten großen Rüstungsbetrieben.
09. und 10. April 1917: „Hungerstreik“ bei der MIAG
700 Arbeiter protestierten gegen die schlechte Ernährungslage. Obwohl zu diesem Zeitpunkt nur dieser Betrieb bestreikt wurde, setzten die Arbeiter eine Zulage durch.
August 1917: Generalstreik
In der Zeit vom 15. bis 18. August 1917 kam es in Braunschweig zum Generalstreik in den großen Betrieben mit rund 5.000 (15.08.) und 7.000 (16.08.) Beteiligten.
Die Forderungen:
• Verbesserung der Versorgung
• Reform des Wahlrechts
• Wahlrecht für Frauen
• Aufhebung des Belagerungszustandes
• Koalitionsrecht, Vereins- und Versammlungsrecht
• Beendigung des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen
• Befreiung aller wegen politischer und militärischer Vergehen Verhafteter
und Verurteilter, ebenso solcher Personen, die wegen Lebensmittelunruhen
verurteilt worden waren
• Zusage, dass niemand, der am Streik beteiligt war, gemaßregelt, zum
Militär eingezogen oder strafrechtlich verfolgt werde
Die Regierung setzte ihre Behördenmacht ein und ging repressiv gegen die Streikenden vor, und zwar durch:
• Verhaftungen und die Einsetzung eines außerordentlichen Kriegsgerichts
• die Einziehung der wehrpflichtigen Streikenden zum Heeresdienst
• die Kommandierung zur Arbeit gegen Soldatensold
• Versammlungs- und Publikationsverbote (Zensur)
Unternehmensleitungen, allen voran die Firma Büssing, unterstützten die Militärbehörden, indem sie der Polizeidirektion bereits am ersten Streiktag eine Liste mit den Namen aller Streikenden, ihrem jeweiligen Wohnort und ihren Militärverhältnissen überreichten.
November 1918: Revolution
Arbeiter und Soldaten verbündeten sich. Die Arbeiter riefen den Generalstreik aus und übernahmen mit Hilfe der bewaffneten Soldaten die Macht als „Arbeiter- und Soldatenrat“.
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