Im Betrieb. „Das Proletariat und der Kapitalismus“, Teil 2

Arbeitskampf bei Büssing
1919 kam es in dem LKW-Werk Büssing in Braunschweig zu einem der härtesten Arbeitskämpfe, die Braunschweig je erlebt hat. Es war eine Zeit, in der die Unternehmer versuchten, die Errungenschaften der Revolution wieder zurückzudrehen.
Im Januar 1919 war der Akkordlohn abgeschafft und ein Zeitlohnsystem eingeführt worden – für die Arbeiterschaft eine große Verbesserung. Heinrich Büssing, Gründer und Inhaber des Werkes und heute gefeiert für seine Ingenieursleistungen, wollte die Wiedereinführung der Akkordarbeit erzwingen.
Er kündigte seiner gesamten Belegschaft von 1.500 Arbeitern und erklärte, er wolle sein Werk vollkommen schließen. Die Arbeiterschaft beantwortete diesen Schock mit dem sofortigen Streik, konnte aber die Entlassung und die Schließung des Betriebes ab Mitte August 1919 nicht verhindern.
Büssings Bedingungen zur Wiederaufnahme der Produktion lauteten: Wiedereinführung der Akkordarbeit und Nichtwiedereinstellung eines Kontingents von einigen hundert Arbeitern, die von der Firmenleitung
ausgesucht wurden. Er wollte die ihm politisch nicht genehmen Aktivisten der Arbeiterorganisationen, speziell des radikalen Arbeiterausschusses loswerden.
Die folgenden Auseinandersetzungen durchliefen alle Schlichtungsinstanzen bis zum Reichsarbeitsminister.
Die Voraussetzungen waren ungleich verteilt: Die ArbeiterInnen erhielten während des Konflikts keine Arbeitslosenunterstützung, während sich das Unternehmen den Stillstand leisten konnte – wie kein zweiter Betrieb in Braunschweig hatte Büssing an der Kriegsproduktion profitiert. In zahlreichen Streikversammlungen diskutierte die Arbeiterschaft über einen möglichen Generalstreik und über Solidaritätsspenden. Währenddessen wurden langsam wieder Arbeiter zu Büssings Bedingungen eingestellt. Sie kamen von außerhalb oder hatten angesichts des Überangebots an Metallarbeitern keine Alternative.
Am 17.11.1919 sprach sich eine Versammlung von rund 700 Büssingarbeitern im „Konzerthaus“ für den Abbruch des Streiks aus, aber am 28.11. meldeten die Braunschweiger Nachrichten: Kein Streikende bei Büssing! Weil Büssing sich weiterhin weigerte, auch die früheren Arbeiterausschussmitglieder wieder einzustellen.
Die Produktion konnte trotzdem aufgenommen werden. Nach dieser Machtprobe war klar, wer „Herr im Haus“ war.

Die Frage der Mitbestimmung und das„Stinnes-Legien-Abkommen“
Nach der Novellierung der Gewerbeordnung 1891 konnten in Betrieben mit mindestens 20 Arbeitern Arbeiterausschüsse gebildet werden. Diese hatten lediglich das Recht, beim Erlass von Arbeitsordnungen gehört zu werden. Ihre Funktion bestand darin, Wünsche und Beschwerden der Arbeiter an den Unternehmer weiterzuleiten. Im Jahr 1905 besaßen nur 10 % der entsprechenden Betriebe einen Arbeiterausschuss. Im Verlauf der Novemberrevolution bildeten sich die politischen Arbeiterräte, für die sich später die Bezeichnung „Betriebsräte“ durchsetzte.

Die arbeitenden Menschen kämpften für ihre Interessen – Arbeitskämpfe und Generalstreiks zeugten bis 1923 von ihrer potenziellen Macht. Die ADGB-Gewerkschaften erlebten nach der Novemberrevolution einen stürmischen Zustrom. Rasch stieg ihre Mitgliederzahl von 966.000 auf über acht Millionen.
Die Unternehmer suchten das Bündnis mit der Führung der freien Gewerkschaften in der sogenannten „Zentralarbeitsgemeinschaftsvereinbarung“. Auf diese Weise wollten sie weitergehende Forderungen der revolutionären Rätebewegung abwehren. Die Gewerkschaftsspitzen fühlten sich durch die Vereinbarung nun mit den Arbeitgebern als „Sozialpartner auf Augenhöhe“.
Sinn und Zweck umriss der Stahlmanager Jakob Reichert Ende 1918: „Es kam darauf an: Wie kann man das Unternehmertum vor der Sozialisierung, Verstaatlichung und nahenden Revolution bewahren …  Angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung gibt es für die Industrie nur in der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen: die Gewerkschaften.“
Das Bündnis unterzeichnete am 15. November 1918 das Stinnes-Legien- Abkommen, benannt nach den beiden Verhandlungsführern Hugo Stinnes und Carl Legien. Damit wurden alte gewerkschaftliche Forderungen verwirklicht.
• Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner
• Bildung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 5 Beschäftigten
• Einführung des Achtstundentages bei vollem Lohnausgleich
• Sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer hatten Anspruch auf ihren früheren Arbeitsplatz.
• Verpflichtung der Arbeitgeber, die von ihnen als Konkurrenz zu den Gewerkschaften geförderten unternehmerfreundlichen „Werkvereine“ („gelbe“ Gewerkschaften) nicht länger zu unterstützen.
• Als Gegenleistung erkannten die Gewerkschaften die freie Unternehmerwirtschaft
an. Der von Teilen der Unabhängigen Sozialdemokratie und dem Spartakusbund geforderten Vergesellschaftung der Produktionsmittel wurde damit faktisch eine Absage erteilt.

Das Betriebsrätegesetz von 1920
In Fortschreibung der Arbeiterausschuss-Bestimmungen der Kaiserzeit sah das Betriebsrätegesetz vom 04.02.1920 vor, in Betrieben ab fünf Beschäftigten eine Vertrauensperson und ab 20 Beschäftigten einen aus mehreren Personen bestehenden Betriebsrat zu wählen.
§ 1 bürdete diesem Betriebsrat jedoch eine Doppelaufgabe auf: Einerseits sollte er die „Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen  der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber” leisten, andererseits der „Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke” dienen. Diese Doppelaufgabe hinderte den Betriebsrat daran, sich zu einer eindeutigen und durchsetzungsfähigen Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite zu entwickeln. Allein
die Mitspracherechte wurden im Vergleich zu früheren Regelungen auf sozialem Gebiet und bei Entlassungen ausgebaut.

Die Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes war begleitet von Protesten und einer Massendemonstration vor dem Reichstag in Berlin: 100.000 Berliner Arbeiter forderten für die Betriebsräte volles Kontrollrecht über die Betriebsführung statt begrenzter Mitwirkung. Wie reagierte die Exekutive? Die preußische Polizei schoss vor dem Reichstag in die unbewaffnete Menge, dabei tötete sie 42 ArbeiterInnen und verletzte weitere 105 zum Teil schwer. Die Gewerkschaftsspitze hatte gehofft, dass die neue „Sozialpartnerschaft“ ewig halten würde. Sie betrachtete Arbeiterräte und den Ruf nach Sozialisierung der Betriebe mit Argwohn.

Generalstreik gegen den Kapp-Putsch
Und es wurde auch der Versuch gestartet, Militär und Adel wieder an die Macht zu bringen. Am 13.03.1920 versuchten Landschaftsrat Kapp und General von Lüttwitz, gemeinsam mit Freikorpsverbänden, gegen die Reichsregierung zu putschen. Die Reichsregierung jedoch rief zum Generalstreik auf, dem reichsweit abertausende ArbeiterInnen folgten. Der Kapp-Putsch wurde erfolgreich abgewehrt. Die Weimarer Republik konnte das „Demokratieexperiment“ vorerst fortsetzen.
Auch in Braunschweig wurde am 14.03.1920 für die Demokratie und für die Republik gestreikt. Die sozialdemokratische Landesregierung (USPD/SPD) forderte die ArbeiterInnen allerdings sehr bald dazu auf, „den Generalstreik sofort zu beenden. An die Arbeit! Laßt ab vom Bürgerkrieg!
Rettet deutsche Wirtschaft und Verfassung!“

Wem gehört die Zeit: Der Achtstundentag wird 100 Jahre alt
Der Achtstundentag ist eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung. Vor fast 200 Jahren durch den frühen Sozialisten Robert Owen erstmals laut erhoben, durch die britische und amerikanische Gewerkschaftsbewegung vorangetrieben, wurde er in Deutschland vor 100 Jahren zum seither gültigen Gesetz. Dazwischen lagen kleine Erfolge und blutige Niederlagen. Der Streik von 90.000 Arbeiterinnen und Arbeitern für den Achtstundentag am 1. Mai 1886 in Chicago endete mit einem Massaker auf dem Haymarket. Seither steht der 1. Mai nicht nur für die Internationalität der Forderungen der Gewerkschaften, sondern eben auch für die Verkürzung der Arbeitszeit.
In Deutschland hat der Rat der Volksbeauftragten als eine der ersten Maßnahmen der Novemberrevolution 1918 eine Arbeitszeitordnung erlassen, in der der Achtstundentag zum Gesetz erhoben wurde. Gemeint ist damit eine Arbeitszeit (ohne Anrechnung der Pausen- und der Wegezeit) von 8 Stunden an sechs  Werktagen von Montag bis Samstag. Bis heute ist im deutschen Arbeitszeitgesetz diese 48-Stunden-Woche festgeschrieben.
Dem Gesetz von 1918 folgten viele Versuche der Arbeitgeber, die Arbeitszeit wieder zu verlängern.

Die Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1960er Jahren und teilweise der 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren geschah nie auf gesetzlicher, sondern immer nur auf tariflicher Basis als Vertrag zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Die Erfolge der Novemberrevolution
Gesetze, die die Arbeitsbeziehungen und -bedingungen der industriellen Fertigung regelten, wurden durch die Novemberrevolution erkämpft – und haben bis heute Bestand:
• Beseitigung der Gesindeordnung und damit Beseitigung personenbezogener Herrschaft und Willkür
• Einführung der Arbeitszeitverordnung mit dem Achtstundentag
• Einführung von Erwerbslosenfürsorge und Arbeitslosenhilfe
• Tarifvertragsverordnung: der Tarifvertrag hat Vorrang vor einem Einzelarbeitsvertrag
• Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der abhängig Beschäftigten.
• Verbot „gelber Gewerkschaften“
• Koalitions- und Versammlungsfreiheit
• Kündigungsschutz, Arbeitsschutzbestimmungen, Mutterschutz
• das Sozialisierungsgesetz gibt der Regierung die Möglichkeit, geeignete wirtschaftliche Unternehmen insbesondere zur Gewinnung von Bodenschätzen oder zur Ausnutzung von Naturkräften per  Entschädigung in eine Gemeinwirtschaft zu überführen. Das Kohlesyndikat und der Kalibergbau werden sozialisiert. Die Reichsregierung stellt fest:
„Das Reich wird dafür sorgen, dass überall nach den Forderungen des
Gemeininteresses und nirgends im kapitalistischen Profitinteresse
gewirtschaftet wird. Und das ist Sozialismus!“
Zu Beginn der Weimarer Republik hatten zahlreiche Streiks die Verteidigung der sozialen Errungenschaften des Novembers 1918 zum Ziel, insbesondere des Achtstundentags. An vielen Stellen wurden Reformen wieder eingeschränkt oder beseitigt. Eine direkte Demokratie mit einer vergesellschafteten Wirtschaft hätte die Errungenschaften der Revolution abgesichert – so hingegen konnten sich die alten Strukturen wieder etablieren.
Die Novemberrevolution blieb unvollendet, denn die Besitzverhältnisse blieben unberührt.

 

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