Die Novemberrevolution in Braunschweig

 

  1. September 2018, 18:00 Uhr, Saal im Gewerkschaftshaus
    Die Novemberrevolution in Braunschweig
    Hans-Ulrich Ludewig und Gerhard Wysocki im Gespräch
  1. September 2018, 10:00 – 16:00 Uhr, Seminarraum im Gewerkschaftshaus
    Seminar zum Gesprächsthema mit Gerhard Wysocki

Am 8. November 1918 unterschreibt Herzog Ernst August die Abdankungsurkunde. Zugleich fordert er die, durch ihn ins Amt, ernannten Minister auf, ihm zu folgen. Alle Macht legt er in die Hände des Arbeiter- und Soldatenrates. Einen Tag früher als in anderen Orten im Deutschen Reich.

Die Novemberrevolution in Braunschweig hat insgesamt etwas Besonderes. Schon Jahre zuvor organisierten sich Arbeiterinnen und Arbeiter, um gegen das undemokratische Dreiklassenwahlrecht zu protestieren. Die herzogliche Macht reagierte mit säbelschwingenden Polizisten, hoch zu Ross.

Bedingt durch die Kriegswirtschaft mussten viele Frauen an Stelle der Männer in der Industrie und anderswo arbeiten gehen, die Männer waren an der Front. Jugendliche ab ca. 14 Jahre begannen eine Ausbildung, das bedeutete allerdings, sie waren in der Produktion integriert. Als 1916, kurz vor dem 1. Mai, die Heeresleitung, einen Sparzwang durchsetzen wollte, kam es zum Kräftevergleich. Die Auszubildenden waren nicht bereit die Hälfte ihres kargen Lohnes als Spende für den Krieg herzugeben und streikten. Sie waren erfolgreich. Der Sparzwangerlass wurde zurück genommen. Eine bedeutende Erfahrung für die jungen Menschen, sie konnten sich gemeinsam gegen die Staatsmacht, den Herzog, gegen das Militär durchsetzen.

Zugleich wurde viel gelesen und diskutiert, in der neuen USPD und im Spartakusbund, Marx und Engels, vielleicht auch Bebel, jedenfalls das Erfurter Programm der SPD von 1891 wurde ausführlich bearbeitet. Es war die Grundlage für die Forderungen der Revolution in Braunschweig und anderswo.

Armut, Hunger, die miserable Versorgungslage der Bevölkerung führten ebenso dazu, den Widerstand gegen den Krieg zu verbreitern. Das gesamte öffentliche Leben war auf Krieg ausgerichtet. Hinzu veränderte sich das Stadtbild, immer mehr Invaliden waren zu sehen, immer mehr Familien trauerten um Angehörige. Der Krieg war sinnlos. Der Adel und mit ihm das Militär, hatte abgewirtschaftet.

Die Revolution organisierte sich in den Betrieben. Die GenossInnen der USPD, des Spartakusbundes und Teile der MSPD (die in Braunschweig in der Minderheit war) gingen aus der Frühschicht heraus, auf die Straße, besetzen die wichtigen Orte in der Stadt: Bahnhof, Telegrafenamt, Polizei und schließlich das Schloss. Der Herzog ging. Die Revolution hatte gesiegt ohne dass ein Schuss gefallen war. Ruhe und Ordnung stand auf der Tagesordnung, kein chaotisches Durcheinander.

Erste Maßnahmen, Gesetze, Verordnungen legten den Grundstein zum Umbau der Gesellschaft. Die Baustelle Demokratie begann ihre Erfolgsgeschichte, auch wenn der Kapitalismus nicht abgesetzt, der Sozialismus nicht realisiert wurde.

Erster Weltkrieg, Ein „Menschenschlachthaus“

Der Erste Weltkrieg begann Anfang August 1914, nachdem bereits seit Jahren mehrmals der Beginn militärischer Konflikte zwischen Deutschland und den europäischen Großmächten drohte. Es ging dabei letztendlich um weltpolitische Einflussnahme und politische und wirtschaftliche Machtansprüche der Nationalstaaten.
Kaiser Wilhelm II. hatte den Krieg an Russland und an Frankreich erklärt, aber er brauchte vom Reichstag die Bewilligung zu Kriegskrediten, um den Krieg zu finanzieren.


Burgfriedenspolitik
„Wir Sozialdemokraten wissen sehr wohl, dass der Weltfriede eine Utopie bleibt, solange die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht abgeschafft ist.“ (Rosa Luxemburg, 1911)

Der Kampf für den Frieden und gegen den drohenden Krieg bildete ein Kernthema der Sozialdemokratie im beginnenden 20. Jahrhundert. Auf einem außerordentlichen Sozialistenkongress der II. Internationale im November 1912 in Basel kamen 555 Delegierte aus 23 Ländern zusammen und erhielten weltweit Aufsehen in der Öffentlichkeit mit ihrem Ausruf: „Gegen den Krieg!“. Vertreter der SPD forderten dazu auf, falls es dennoch zum Krieg kommen sollte, „die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen“ (aus dem Protokoll des SPD-Parteitages in Jena 1913).
Nur wenige Tage vor der Mobilmachung des Deutschen Reiches auf kaiserlichen Befehl hatte die SPD – auch in Braunschweig – noch Massendemonstrationen für den Frieden abgehalten und zum Widerstand gegen den Krieg aufgerufen.
Am 04.08.1914 fand die Reichstagssitzung zur Bewilligung der Kriegskredite statt. Die SPD war stärkste Fraktion.

Die SPD-Fraktion stimmte den Kriegskrediten zu – ein Schock für viele sozialdemokratische Anhänger. Führende Sozialdemokraten erhofften sich als Gegenleistung für ihre „patriotische Zuverlässigkeit“ eine größere Anerkennung ihrer Partei durch den Kaiser und die Gewährung von mehr Demokratie, insbesondere die lange geforderte Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts und umfangreichere parlamentarische Befugnisse für den Reichstag. Innerhalb der SPD-Fraktion hatten die Kriegsbefürworter die Mehrheit erlangt und die erklärten Kriegsgegner beugten sich der Fraktionsdisziplin.
Große Teile der Bevölkerung und Politik glaubten auch der Propaganda, es würde sich um einen Krieg zur Verteidigung Deutschlands handeln. Die Führer der Arbeiterbewegung hatten sich damit auf einen „Burgfrieden“ eingelassen: alle bisherigen Konflikte wurden zurückgestellt, um gemeinsam das Vaterland zu verteidigen.
Auch die Gewerkschaften verfolgten diese Linie: Schon am 02.08.1914 beschlossen sie, für die Dauer des Krieges alle Lohnkämpfe abzubrechen bzw. zu vermeiden sowie für den Fall von Streiks den Streikenden jede Streikunterstützung zu versagen.


Opposition gegen den Krieg und Spaltung der SPD
Bei weiteren Kriegskrediten verweigerten die Kriegsgegner ihre Zustimmung im Reichstag. Karl Liebknecht wurde daraufhin aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen. Die Kriegsgegner wurden nicht nur von der Staatsgewalt verfolgt und verhaftet, sondern auch von den sozialdemokratischen Kriegsbefürwortern ausgegrenzt. In Braunschweig waren insbesondere die Jugendlichen des 1907 gegründeten „Bildungsvereins jugendlicher Arbeiterinnen und Arbeiter“ aktiv
gegen den Krieg.
Im ganzen Reich schlug 1916 die Stimmung um, als die Auswirkungen des Krieges deutlicher wurden. Die Protestbereitschaft wuchs.

Die unterschiedliche Haltung zum Krieg führte schließlich zur Spaltung der SPD und neuen Gruppierungen.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gaben illegal eine Zeitschrift heraus und gründeten die Gruppe „Spartakus“. Die Gründung einer Braunschweiger Spartakusgruppe erfolgte Anfang 1916 im Filmspielhaus Wendenstraße mit rund 500 Mitgliedern. Vorstandsmitglieder waren August Merges, Rudolf Sachs und Robert Gehrke. Bis Ende 1918 war die Gruppe in Braunschweig auf rund 1.000 Mitglieder angewachsen.
1917 schlossen die Kriegsunterstützer in der SPD die Kriegsgegner aus der Partei aus. Diese gründeten die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschland USPD. Braunschweig galt bald als Hochburg der USPD.
Der Braunschweiger „Volksfreund“ hatte sich mit Beginn des Krieges auch auf die Seite der Befürworter begeben. Ab 1915 vertrat er aber wieder die Auffassungen der Opposition und kritisierte die Politik des Burgfriedens.
Darüber hinaus wurde publik gemacht, wie Rüstungsbetriebe wie Büssing, Amme/Giesecke/Konegen und Jüdel und die Konservenindustrie mit dem Krieg ihre Gewinne steigerten.


Der Krieg
Der Erste Weltkrieg wurde zu einem „Menschenschlachthaus“ – so der Titel eines Buches von 1912, in dem der Schriftsteller und Lehrer Wilhelm Lamszus „Bilder vom kommenden Krieg“ beschrieb. Es zeigt, wie vorhersehbar der Krieg gewesen war. Dabei ist das Ausmaß an menschlichem Leid, Entbehrungen, zerstörten Lebensentwürfen sowie des Sterbens durch Kriegshandlungen und Hunger bis heute schwer fassbar.

Rund 40 Staaten nahmen direkt oder indirekt teil. 60 Millionen junge Männer wurden Soldaten, allein im Deutschen Reich waren es 13 Millionen, von denen mehr als 2 Millionen gefallen sind. Die skrupellose Kriegsführung widersprach den Grundsätzen der Haager Landkriegsordnung. Die von vorn herein beabsichtigte Missachtung der belgischen Neutralität, die Gewalt gegen Kriegsgefangene und Zivilisten, der Einsatz von Giftgas sowie die gegen deutsche Zivilisten gerichtete alliierte Seeblockade als Antwort auf den uneingeschränkten U-Boot- Krieg durch Deutschland offenbarten einen „totalen“ Krieg, in den nicht nur Soldaten, sondern auch die gesamte Bevölkerung der am Konflikt beteiligten Gesellschaften einbezogen wurden. Es war der erste Krieg in der Menschheitsgeschichte, der nicht mehr Mensch gegen Mensch, sondern industriell aus der Luft und unter Wasser geführt wurde.

Die Pressezensur in Deutschland verhinderte ab 1915 eine realistische Berichterstattung sowohl über den Krieg als auch über die Zustände zuhause.
In den Fabriken führten die Einberufungen zu einem Mangel an Arbeitskräften. Überstunden, Nacht-, Akkord- und Sonntagsarbeit wurden in der Rüstungsindustrie zur Regel. Im Verlauf des Krieges stieg die Zahl der in der Industrie arbeitenden Frauen um 50 Prozent an.
Gleichzeitig verschlechterte sich die Versorgungslage monatlich. In der Illusion eines schnellen Sieges waren die normalen Nahrungsmittelvorräte bereits in den ersten Kriegsmonaten verbraucht. Im Sommer 1917 hatten die zugeteilten Lebensmittel nur etwa 1000 Kalorien pro Tag, 2280 wurden als Minimum angesehen. Ab Winter 1916/17 litten immer mehr Menschen aufgrund der mangelhaften  Nahrungsmittelversorgung an Unter- und Fehlernährung. Während des Ersten Weltkriegs starben in Deutschland rund 750.000 Menschen an Unterernährung und an deren Folgen (Anfälligkeit für Tuberkulose, „Blutarmut“ vor allem bei Kindern und andere Krankheiten).
Bei Kriegsende waren rund 3 Millionen physisch und psychisch versehrte Veteranen nach Deutschland zurückgekommen.


Das Ende des Krieges und die Revolution
Im Herbst 1918 wurde offensichtlich, dass die deutsche Armee den Krieg nicht mehr gewinnen würde. Nach einem Befehl der deutsche Marineführung vom 24.10.1918, der zu einer Entscheidungsschlacht mit der britischen Flotte führen sollte, kam es zur massenhaften Gehorsamsverweigerung von Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel. Der Matrosenaufstand wurde zum Ausgangspunkt der Novemberrevolution.

„Zur gleichen Zeit machten sich Tausende blau gekleidete deutsche Matrosen mit roten Fahnen in grünen Zügen auf den Weg von den Küstenstädten, die sie in einer Revolte in ihre Gewalt gebracht hatten, in alle Winkel des Reiches und verbreiteten in Windeseile ihre Botschaft: „Nieder mit dem Krieg, nieder mit dem Kaiser!“
(Klaus Gietinger)

Am 07.11.1918 trafen Matrosen aus Kiel am Braunschweiger Hauptbahnhof ein. Die Braunschweiger Revolutionäre riefen für den Folgetag den Generalstreik aus. Arbeiter und Soldaten taten sich zusammen.

Der Krieg war zu Ende. Um die Braunschweiger Bevölkerung rechtzeitig über die Ankunft größerer Truppenverbände zu informieren, beschloss der Arbeiter- und Soldatenrat, „1 ½ Stunden vor Ankunft (…) sämtliche Glocken der Stadt 10 Minuten lang läuten zu lassen.“

Weiter zu : „Wer herrscht?“, Der Kampf um das Wahlrecht

Im Betrieb. „Das Proletariat und der Kapitalismus“, Teil 1

Die Fabrik
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren auch in Braunschweig viele Industriebetriebe entstanden. Die Arbeitsbedingungen waren jedoch recht unterschiedlich. So gab es zum einen den Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau (Büssing, Jüdel, Luther, Wilke, Amme/Giesecke/ Konegen) mit einer breiten Palette an handwerklich orientierter qualifizierter Arbeit. Die Jutespinnerei hingegen beschäftigten Hunderte ungelernter Arbeiterinnen. Die Konservenindustrie belebte zwar die Metallverarbeitung, die Arbeit lag aber vor allem im Herrichten der Agrarprodukte und wurde hauptsächlich von Frauen in Saison- oder Heimarbeit erledigt.

Die Industriearbeiterschaft wehrte sich gegen geringe Löhne, Akkordarbeit, lange Arbeitszeiten, konjunkturelle Erwerbslosigkeit und autoritäre Betriebsführungen immer häufiger mit Streiks und Demonstrationen.

Die Gewerkschaftsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Im März 1892 fasste der von der Generalkommission nach Halberstadt einberufene Gewerkschaftskongress einen richtungsweisenden Beschluss. Nach heftigen Debatten sprach sich die Mehrheit der Delegierten für die Bildung von Zentralverbänden aus. Die lokale Organisationsform und das Vertrauensmännersystem sollten aufgelöst werden. Doch mit der Entscheidung von Halberstadt waren längst nicht alle Organisationsfragen beantwortet. Nicht entschieden etwa wurde die Frage, ob Gewerkschaften Berufsverbände oder Industrieverbände werden sollten, sich also am ständischen Handwerk oder den neuen Industriebetrieben orientieren sollten. In einem Industriebetrieb arbeiten oft verschiedenste Gewerke gemeinsam. Daher die Forderung: Ein Betrieb – eine Gewerkschaft!
Der Deutsche Metallarbeiterverband mit über 500.000 Mitgliedern war der größte Einzelverband der Freien Gewerkschaften, gefolgt von den Verbänden der Bauarbeiter, der Bergleute, der Holzarbeiter und der Textilarbeiter.

Die deutsche Gewerkschaftsbewegung war seit dem 19. Jahrhundert in eine liberale, eine christliche und eine sozialistische („Freie“) Richtung gespalten.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bezeichneten sich selbst als „volkstümlich-freiheitlich“ oder „freiheitlich-national” und mit dem „Eintritt in den Gewerkverein bekennt sich jeder als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen”.
Wegweisend für die Gründung christlicher Gewerkschaften war eine Enzyklika des Papstes, der sich 1891 für Sozialreformen aus christlicher Nächstenliebe und für die Gründung christlicher Arbeitervereine ausgesprochen hatte. Auf dem Krefelder Kongress 1901 gründeten 23 Organisationen mit etwa 84.000 Mitgliedern den Gesamtverband.
Außerdem gab es noch die sogenannten „gelben Gewerkschaften“. Sie wandten sich gegen die von den „roten Gewerkschaften“ vertretenen sozialistischen oder sozialdemokratischen Ideen. Sie stellten eine Vereinigung von Arbeitnehmern dar, die den gewerkschaftlichen Kampf ablehnten, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Unternehmern anstrebten und von diesen moralisch und finanziell unterstützt wurden.
In Deutschland kam es um 1905 zur Gründung erster gelber Gewerkschaften, so zum Beispiel bei Siemens oder unter Metallarbeitern in Augsburg. Kurz nach der Revolution verpflichteten sich die damaligen deutschen Arbeitgeberverbände im Stinnes-Legien-Abkommen, ihre bisherige Unterstützung für die gelben Gewerkschaften einzustellen.

In der Weimarer Republik hatten die Freien Gewerkschaften, die sich im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossen hatten, die meisten Mitglieder. Der ADGB war ein Zusammenschluss von 52 Gewerkschaften und durch Kooperationsverträge mit dem Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB) verbunden. Seinen Namen mit dem Zusatz „Allgemeiner“ erhielt er, da im März 1919 die christlichen und liberalen Gewerkschaften mit der Gründung eines eigenen Dachverbandes den Namen Deutscher Gewerkschaftsbund bereits besetzt hatten.

Gewerkschaften und der Kampf um soziale Rechte
Eine Form demokratischer Mitbestimmung im Betrieb war um die Jahrhundertwende kaum vorgesehen. Voraussetzung für die Gegenwehr gegen die schlechten Arbeitsbedingungen bildete ein bereits hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad:
1907 waren im Herzogtum Braunschweig 37 Prozent der IndustriearbeiterInnen gewerkschaftlich organisiert. Im Jahr zuvor kam es zu rund 1.000 Streiktagen. Dagegen setzten die Unternehmer sechs
Aussperrungen und das Herzogtum sieben Polizeieinsätze sowie sechs Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
1910 wurden 25 Streiks durchgeführt. Bestreikte Unternehmen versuchten durch die Anwerbung von Arbeitern außerhalb des Braunschweiger Landes, die Streiks zu unterlaufen. Für die streikenden ArbeiterInnen waren das Streikbrecher. Sie wehrten sich, indem sie mit Aktionsgruppen die Fremden am Bahnhof in Empfang nahmen, über ihre Streikziele aufklärten und an der Arbeitsaufnahme hinderten.

Streik oder nicht Streik?
Mit der Zentralisierung von Gewerkschaften im Verlauf der Jahrzehnte vor dem Krieg konnte durch überbetrieblich und überregional organisierte Arbeitskämpfe die soziale Lage der lohnabhängigen Menschen allmählich verbessert werden.
Doch zu Beginn des Krieges versagten die Gewerkschaften ebenso wie die große Arbeiterpartei SPD. Die Spitzenfunktionäre der Arbeiterorganisationen hatten sich seit August 1914 in die nationalistische Kriegsbegeisterung eingereiht. Im sogenannten „Burgfrieden“ beschlossen sie, nicht mehr zu Streiks aufzurufen. Als Gegenleistung wurden Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre nicht nur vom Kriegsdienst an der Front freigestellt, sondern erhielten mit dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ ab 1916 in den sogenannten Kriegsausschüssen auch ein beschränktes Mitspracherecht in der Organisation der Kriegswirtschaft.
Dennoch wurden Streiks zum Beispiel von den Jugendlichen des Braunschweiger „Bildungsvereins“ initiiert oder entstanden spontan. In Berlin und an anderen Orten wurden Streiks autonom organisiert, später politisierte sich die Bewegung und es entstand das Netzwerk der Revolutionären Obleute. Die Braunschweiger Oppositionellen hatten Kontakte zu den Berlinern. Auch in den Braunschweiger Betrieben wurden informelle Strukturen der Arbeiterorganisation aufgebaut.
Die betriebliche Arbeiteropposition beruhte auf einem illegalen Vertrauensleutesystem mit einem Exekutivausschuss, der sich nach den großen Streiks im August 1917 gebildet hatte. Gleichzeitig blieb die
Arbeiteropposition unter dem organisatorischen Dach der USPD.

Streiks in Braunschweig
Mai 1916: „Sparzwangstreik“
Nach einem Erlass der Militärregierung in Hannover, in Arbeiterkreisen kurz „Sparzwangverordnung“ genannt, sollten alle Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren den größten Teil ihres Lohnes als Sparguthaben festlegen. Die Arbeiterjugend Braunschweigs protestierte. Sie mobilisierte am 01. Mai 1916 den Protest auf den Straßen und rief zu Streiks auf. Den Protesten schlossen sich spontan viele Frauen an, die sich aufgrund des stundenlangen Anstehens nach Lebensmitteln bei gleichzeitig unzureichender
und sichtlich ungerechter Lebensmittelverteilung lautstark empörten.
Eine zweite Streikversammlung fand 02. Mai 1916 im „Ölper Waldhaus“ statt. Die Demonstrationen dauerten noch weitere Tage an, in deren Verlauf Lebensmittelgeschäfte geplündert, Fensterscheiben von 70 Privathäusern und 25 Geschäfte demoliert wurden. Die Regierung setzte Militär ein. Nach einigem Zögern schlossen sich die Gewerkschaften den Protesten an und drohten mit einem Generalstreik. Daraufhin zogen die Militärbehörden den Erlass am 06. Mai 1916 wieder zurück. Der erfolgreiche „Sparzwangstreik“ wurde in der Arbeiterbewegung reichsweit als großer Erfolg gefeiert.

Juni 1916: „Liebknecht-Solidaritätsstreik“
Karl Liebknecht war aufgrund seiner Reden gegen den Krieg wegen Hochverrats verhaftet und zu 4 Jahren und 1 Monat Festungshaft verurteilt worden. In Braunschweig streikten rund 9.000 Arbeiter aus den meisten großen Rüstungsbetrieben.

09. und 10. April 1917: „Hungerstreik“ bei der MIAG
700 Arbeiter protestierten gegen die schlechte Ernährungslage. Obwohl zu diesem Zeitpunkt nur dieser Betrieb bestreikt wurde, setzten die Arbeiter eine Zulage durch.

August 1917: Generalstreik
In der Zeit vom 15. bis 18. August 1917 kam es in Braunschweig zum Generalstreik in den großen Betrieben mit rund 5.000 (15.08.) und 7.000 (16.08.) Beteiligten.
Die Forderungen:
• Verbesserung der Versorgung
• Reform des Wahlrechts
• Wahlrecht für Frauen
• Aufhebung des Belagerungszustandes
• Koalitionsrecht, Vereins- und Versammlungsrecht
• Beendigung des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen
• Befreiung aller wegen politischer und militärischer Vergehen Verhafteter
und Verurteilter, ebenso solcher Personen, die wegen Lebensmittelunruhen
verurteilt worden waren
• Zusage, dass niemand, der am Streik beteiligt war, gemaßregelt, zum
Militär eingezogen oder strafrechtlich verfolgt werde

Die Regierung setzte ihre Behördenmacht ein und ging repressiv gegen die Streikenden vor, und zwar durch:
• Verhaftungen und die Einsetzung eines außerordentlichen Kriegsgerichts
• die Einziehung der wehrpflichtigen Streikenden zum Heeresdienst
• die Kommandierung zur Arbeit gegen Soldatensold
• Versammlungs- und Publikationsverbote (Zensur)

Unternehmensleitungen, allen voran die Firma Büssing, unterstützten die Militärbehörden, indem sie der Polizeidirektion bereits am ersten Streiktag eine Liste mit den Namen aller Streikenden, ihrem jeweiligen Wohnort und ihren Militärverhältnissen überreichten.

November 1918: Revolution
Arbeiter und Soldaten verbündeten sich. Die Arbeiter riefen den Generalstreik aus und übernahmen mit Hilfe der bewaffneten Soldaten die Macht als „Arbeiter- und Soldatenrat“.

 

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„Die Braunschweiger Räterepublik“

SOZIALISTISCHE REPUBLIK BRAUNSCHWEIG


Durch den Bankrott des kaiserlich-monarchischen Herrschaftssystems sieht sich die Arbeiterbewegung vor die Aufgabe gestellt, eine neue Ordnung zu errichten. Am 10.11.1918 wird in Braunschweig die erste Regierung gebildet, es folgen Gesetze und Anordnungen, um die Ziele der Revolution umzusetzen und eine direkte Demokratie aufzubauen. Darüberhinaus gibt es viele Aufgaben zu meistern, die vor allem auch durch die Kriegsfolgen, die Rückkehr der Soldaten von der Front, die Umstellung der Wirtschaft und die mangelhafte Versorgungslage entstanden sind.
Es gibt jedoch auch konträre politische Kräfte, die durch die Revolution ihre eigenen Interessen bedroht sehen. Und auch unter denjenigen, die für die Demokratie eintreten, herrschen unterschiedliche Vorstellungen über den richtigen Weg.


Die ersten Gesetze und Maßnahmen
Innerhalb von wenigen Tagen und Wochen erlässt die erste Regierung der Novemberrevolution in Braunschweig 8 Gesetze.
Es wird die Durchführung von Wahlen zur Landesversammlung angekündigt, um den Prozess der Demokratisierung voranzubringen.

1. Demobilmachungsgesetz: Sicherstellung der Rückkehr und Entlassung der Soldaten von der Front, Umstellung der Kriegswirtschaft auf Friedenszeiten

2. Gesetz über die Arbeiter-und Soldatenräte, das als deren Aufgabe bestimmt, die „Durchführung der sozialistischen Revolution vorzubereiten und zu überwachen.“ Außerdem wird genau festgelegt, wie und wieviele Räte zu wählen sind.

3. Gesetz über die Weitergeltung der bisherigen Landesgesetze und Einrichtungen, um die alltagsnotwendigen Abläufe sowie Rechtssicherheit zu gewährleisten. Alle Beamten sind aufgerufen, auf ihren Posten zu bleiben und ihre Pflicht zu versehen, für die neue Räteregierung.

4. Gesetz über die Bildung der Roten Garde. Die „Rote Garde“– später in „Volkswehr“ umbenannt – besteht aus Freiwilligen. Sie soll die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten und die Revolution verteidigen. Sie unterstützt auch die Patrouillen der Polizei. Um Plünderungen, Hamsterei und Wucher vorzubeugen, werden alle zuvor entlassenen Polizeibeamte wieder eingestellt.

5. Gesetz über Volksstandgerichte. Diese „Gerichte“ werden jedoch nie einberufen.

6. Gesetz über die Neuordnung der Volksschulaufsicht. Die Schulen werden von der kirchlichen Schulaufsicht und Weisungsbefugnis befreit.

7. Gesetz über Enteignung von Grundeigentum für Notstandsarbeiten. Dadurch sollen für Erwerbslose, vor allem ehemalige Soldaten, Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Domänen und Güter, die vorher im Besitz des Herzogs waren, gehören jetzt der Republik Braunschweig. Es gibt Ideen, dieses Land genossenschaftlich zu bewirtschaften.

8. Gesetz über den Austritt aus der Kirche. Damit wird der Kirchenaustritt erleichtert und die Trennung von Staat und Kirche eingeführt.


Revolution und Konterrevolution
Politische und militärische Akteure rufen die Bevölkerung zur Beteiligung an freiwilligen Korps auf. Der Arbeiter- und Soldatenrat wendet sich vehement dagegen und warnt vor einem Bürgerkrieg. In Berlin werden am 15. Januar 1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die beiden einflussreichen Vertreter der linken Fraktion der Arbeiterbewegung, von Freikorps-Soldaten ermordet, die im Auftrag der Regierung Ebert und Noske als „Sicherheitsexperten“ tätig waren. 30.000 Menschen versammeln sich daraufhin in Braunschweig zu einem Demonstrationszug.


Die Räterepublik Braunschweig und das Landesparlament
Innerhalb der Arbeiterbewegung gibt es unterschiedliche Auffassungen über die nächsten Schritte und die Gestaltung der Demokratie. Der bereits im Dezember 1918 neu gewählte Braunschweiger Landtag wird im Februar 1919 schließlich einberufen. Die USPD hat hier nur 14, die MSPD 17 von 60 Sitzen erlangt. MSPD und USPD einigen sich auf eine Koalition. Sie verabschieden die vorläufige Verfassung, die dem Arbeiter- und Soldatenrat lediglich ein Veto- Recht im Konfliktfall einräumt, worüber dann in einem Volksentscheid abzustimmen wäre. Damit besteht in Braunschweig eine Art politischer „Doppelherrschaft“: zum einen die auf Basis der Landtagswahlen gebildete Regierung aus aus je 4 Vertretern von SPD und USPD, zum anderen der Landesarbeiterrat.
Aus Sorge vor einem weiteren Erstarken der konservativen Kräfte und Verlust des bisher Erreichten stimmt Sepp Oerter (USPD) diesem Modell zu. Heinrich Jasper (MSPD) wird zum neuen Präsidenten der Republik Braunschweig gewählt.


Radikalisierung für die Räterepublik
Im März 1919 unternehmen Mitglieder von Spartakusbund und USPD weitere Anstrengungen für eine „Sozialistische Braunschweiger Räterepublik“. Eine Urabstimmung ergibt bei schwacher Beteiligung eine knappe Mehrheit für die Räterepublik. Bei den Wahlen zum Landes-Arbeiterrat, der von allen produktiv Tätigen ab 20 Jahre gewählt wird, erhält die USPD 42 Sitze, MSPD 20, DDP 2 und BLW 2 Sitze.
Die Auseinandersetzungen um die Frage nach Parlamentarismus oder Räterepublik führen zu einer weiteren Aufspaltung der Sozialisten. Im März gründet sich eine braunschweiger Ortsgruppe der KPD.

Am 09.04.1919 rufen die Spartakisten auf dem Schlossplatz den Generalstreik aus. Ziel ist der Sturz der braunschweigischen Koalitionsregierung und die Errichtung einer Räteregierung.
• Alle Macht den Arbeiterräten
• Absetzung der „Mörder-Regierung“ Ebert/Scheidemann
• Anschluss an die Russische Räterepublik
• Auflösung der Nationalversammlung und sämtlicher Landesversammlungen
• Bewaffnung der Arbeiterschaft
• Befreiung aller politischen Gefangenen
• Sofortige Sozialisierung durch Einführung von Betriebsräten
• Auflösung aller Freikorps
• Schaffung eines Volksheeres


Das Ende der Räterepublik in Braunschweig
Das Braunschweiger Bürgertum antwortet auf den Generalstreik mit umfassenden Boykottmaßnahmen. Die Reichsregierung verhängt den Belagerungszustand über Braunschweig. Am 17.04.1919 wird Braunschweig durch das Freikorps von General Maercker besetzt. Der Arbeiter- und Soldatenrat Braunschweig leistet keine Gegenwehr – in anderen Städten kommt es hingegen zu blutigen Auseinandersetzungen.
Obwohl die braunschweigische Landesregierung die Beendigung der Streiks erreicht hatte, wird sie von der Reichsregierung abgesetzt. Der Landtag wählt eine neue Regierung.

Auf Reichsebene sind die Weichen bereits früher gestellt worden. Im Dezember 1918 stimmt der erste Reichsrätekongress für eine Wahl zur Nationalversammlung und nicht für ein Rätesystem als Grundlage der Verfassung. Damit hatten sich die Räte praktisch selbst entmachtet.
Die drei Delegierten aus Braunschweig, der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrats Emil Schütz, der 31jährige Wilhelm Reupke aus Bad Harzburg und der 63jährige Zigarrenfabrikant Heinrich Wassermann aus Schöningen, alle USPD, hatten gegen die Einberufung einer Nationalversammlung gestimmt.
Die Nationalversammlung wird im Januar 1919 gewählt und tritt in Weimar zusammen, wo sie am 31.07.1919 die Weimarer Verfassung verabschiedet.

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