Im Betrieb. „Das Proletariat und der Kapitalismus“, Teil 2

Arbeitskampf bei Büssing
1919 kam es in dem LKW-Werk Büssing in Braunschweig zu einem der härtesten Arbeitskämpfe, die Braunschweig je erlebt hat. Es war eine Zeit, in der die Unternehmer versuchten, die Errungenschaften der Revolution wieder zurückzudrehen.
Im Januar 1919 war der Akkordlohn abgeschafft und ein Zeitlohnsystem eingeführt worden – für die Arbeiterschaft eine große Verbesserung. Heinrich Büssing, Gründer und Inhaber des Werkes und heute gefeiert für seine Ingenieursleistungen, wollte die Wiedereinführung der Akkordarbeit erzwingen.
Er kündigte seiner gesamten Belegschaft von 1.500 Arbeitern und erklärte, er wolle sein Werk vollkommen schließen. Die Arbeiterschaft beantwortete diesen Schock mit dem sofortigen Streik, konnte aber die Entlassung und die Schließung des Betriebes ab Mitte August 1919 nicht verhindern.
Büssings Bedingungen zur Wiederaufnahme der Produktion lauteten: Wiedereinführung der Akkordarbeit und Nichtwiedereinstellung eines Kontingents von einigen hundert Arbeitern, die von der Firmenleitung
ausgesucht wurden. Er wollte die ihm politisch nicht genehmen Aktivisten der Arbeiterorganisationen, speziell des radikalen Arbeiterausschusses loswerden.
Die folgenden Auseinandersetzungen durchliefen alle Schlichtungsinstanzen bis zum Reichsarbeitsminister.
Die Voraussetzungen waren ungleich verteilt: Die ArbeiterInnen erhielten während des Konflikts keine Arbeitslosenunterstützung, während sich das Unternehmen den Stillstand leisten konnte – wie kein zweiter Betrieb in Braunschweig hatte Büssing an der Kriegsproduktion profitiert. In zahlreichen Streikversammlungen diskutierte die Arbeiterschaft über einen möglichen Generalstreik und über Solidaritätsspenden. Währenddessen wurden langsam wieder Arbeiter zu Büssings Bedingungen eingestellt. Sie kamen von außerhalb oder hatten angesichts des Überangebots an Metallarbeitern keine Alternative.
Am 17.11.1919 sprach sich eine Versammlung von rund 700 Büssingarbeitern im „Konzerthaus“ für den Abbruch des Streiks aus, aber am 28.11. meldeten die Braunschweiger Nachrichten: Kein Streikende bei Büssing! Weil Büssing sich weiterhin weigerte, auch die früheren Arbeiterausschussmitglieder wieder einzustellen.
Die Produktion konnte trotzdem aufgenommen werden. Nach dieser Machtprobe war klar, wer „Herr im Haus“ war.

Die Frage der Mitbestimmung und das„Stinnes-Legien-Abkommen“
Nach der Novellierung der Gewerbeordnung 1891 konnten in Betrieben mit mindestens 20 Arbeitern Arbeiterausschüsse gebildet werden. Diese hatten lediglich das Recht, beim Erlass von Arbeitsordnungen gehört zu werden. Ihre Funktion bestand darin, Wünsche und Beschwerden der Arbeiter an den Unternehmer weiterzuleiten. Im Jahr 1905 besaßen nur 10 % der entsprechenden Betriebe einen Arbeiterausschuss. Im Verlauf der Novemberrevolution bildeten sich die politischen Arbeiterräte, für die sich später die Bezeichnung „Betriebsräte“ durchsetzte.

Die arbeitenden Menschen kämpften für ihre Interessen – Arbeitskämpfe und Generalstreiks zeugten bis 1923 von ihrer potenziellen Macht. Die ADGB-Gewerkschaften erlebten nach der Novemberrevolution einen stürmischen Zustrom. Rasch stieg ihre Mitgliederzahl von 966.000 auf über acht Millionen.
Die Unternehmer suchten das Bündnis mit der Führung der freien Gewerkschaften in der sogenannten „Zentralarbeitsgemeinschaftsvereinbarung“. Auf diese Weise wollten sie weitergehende Forderungen der revolutionären Rätebewegung abwehren. Die Gewerkschaftsspitzen fühlten sich durch die Vereinbarung nun mit den Arbeitgebern als „Sozialpartner auf Augenhöhe“.
Sinn und Zweck umriss der Stahlmanager Jakob Reichert Ende 1918: „Es kam darauf an: Wie kann man das Unternehmertum vor der Sozialisierung, Verstaatlichung und nahenden Revolution bewahren …  Angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung gibt es für die Industrie nur in der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen: die Gewerkschaften.“
Das Bündnis unterzeichnete am 15. November 1918 das Stinnes-Legien- Abkommen, benannt nach den beiden Verhandlungsführern Hugo Stinnes und Carl Legien. Damit wurden alte gewerkschaftliche Forderungen verwirklicht.
• Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner
• Bildung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 5 Beschäftigten
• Einführung des Achtstundentages bei vollem Lohnausgleich
• Sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer hatten Anspruch auf ihren früheren Arbeitsplatz.
• Verpflichtung der Arbeitgeber, die von ihnen als Konkurrenz zu den Gewerkschaften geförderten unternehmerfreundlichen „Werkvereine“ („gelbe“ Gewerkschaften) nicht länger zu unterstützen.
• Als Gegenleistung erkannten die Gewerkschaften die freie Unternehmerwirtschaft
an. Der von Teilen der Unabhängigen Sozialdemokratie und dem Spartakusbund geforderten Vergesellschaftung der Produktionsmittel wurde damit faktisch eine Absage erteilt.

Das Betriebsrätegesetz von 1920
In Fortschreibung der Arbeiterausschuss-Bestimmungen der Kaiserzeit sah das Betriebsrätegesetz vom 04.02.1920 vor, in Betrieben ab fünf Beschäftigten eine Vertrauensperson und ab 20 Beschäftigten einen aus mehreren Personen bestehenden Betriebsrat zu wählen.
§ 1 bürdete diesem Betriebsrat jedoch eine Doppelaufgabe auf: Einerseits sollte er die „Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen  der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber” leisten, andererseits der „Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke” dienen. Diese Doppelaufgabe hinderte den Betriebsrat daran, sich zu einer eindeutigen und durchsetzungsfähigen Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite zu entwickeln. Allein
die Mitspracherechte wurden im Vergleich zu früheren Regelungen auf sozialem Gebiet und bei Entlassungen ausgebaut.

Die Verabschiedung des ersten Betriebsrätegesetzes war begleitet von Protesten und einer Massendemonstration vor dem Reichstag in Berlin: 100.000 Berliner Arbeiter forderten für die Betriebsräte volles Kontrollrecht über die Betriebsführung statt begrenzter Mitwirkung. Wie reagierte die Exekutive? Die preußische Polizei schoss vor dem Reichstag in die unbewaffnete Menge, dabei tötete sie 42 ArbeiterInnen und verletzte weitere 105 zum Teil schwer. Die Gewerkschaftsspitze hatte gehofft, dass die neue „Sozialpartnerschaft“ ewig halten würde. Sie betrachtete Arbeiterräte und den Ruf nach Sozialisierung der Betriebe mit Argwohn.

Generalstreik gegen den Kapp-Putsch
Und es wurde auch der Versuch gestartet, Militär und Adel wieder an die Macht zu bringen. Am 13.03.1920 versuchten Landschaftsrat Kapp und General von Lüttwitz, gemeinsam mit Freikorpsverbänden, gegen die Reichsregierung zu putschen. Die Reichsregierung jedoch rief zum Generalstreik auf, dem reichsweit abertausende ArbeiterInnen folgten. Der Kapp-Putsch wurde erfolgreich abgewehrt. Die Weimarer Republik konnte das „Demokratieexperiment“ vorerst fortsetzen.
Auch in Braunschweig wurde am 14.03.1920 für die Demokratie und für die Republik gestreikt. Die sozialdemokratische Landesregierung (USPD/SPD) forderte die ArbeiterInnen allerdings sehr bald dazu auf, „den Generalstreik sofort zu beenden. An die Arbeit! Laßt ab vom Bürgerkrieg!
Rettet deutsche Wirtschaft und Verfassung!“

Wem gehört die Zeit: Der Achtstundentag wird 100 Jahre alt
Der Achtstundentag ist eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung. Vor fast 200 Jahren durch den frühen Sozialisten Robert Owen erstmals laut erhoben, durch die britische und amerikanische Gewerkschaftsbewegung vorangetrieben, wurde er in Deutschland vor 100 Jahren zum seither gültigen Gesetz. Dazwischen lagen kleine Erfolge und blutige Niederlagen. Der Streik von 90.000 Arbeiterinnen und Arbeitern für den Achtstundentag am 1. Mai 1886 in Chicago endete mit einem Massaker auf dem Haymarket. Seither steht der 1. Mai nicht nur für die Internationalität der Forderungen der Gewerkschaften, sondern eben auch für die Verkürzung der Arbeitszeit.
In Deutschland hat der Rat der Volksbeauftragten als eine der ersten Maßnahmen der Novemberrevolution 1918 eine Arbeitszeitordnung erlassen, in der der Achtstundentag zum Gesetz erhoben wurde. Gemeint ist damit eine Arbeitszeit (ohne Anrechnung der Pausen- und der Wegezeit) von 8 Stunden an sechs  Werktagen von Montag bis Samstag. Bis heute ist im deutschen Arbeitszeitgesetz diese 48-Stunden-Woche festgeschrieben.
Dem Gesetz von 1918 folgten viele Versuche der Arbeitgeber, die Arbeitszeit wieder zu verlängern.

Die Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1960er Jahren und teilweise der 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren geschah nie auf gesetzlicher, sondern immer nur auf tariflicher Basis als Vertrag zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Die Erfolge der Novemberrevolution
Gesetze, die die Arbeitsbeziehungen und -bedingungen der industriellen Fertigung regelten, wurden durch die Novemberrevolution erkämpft – und haben bis heute Bestand:
• Beseitigung der Gesindeordnung und damit Beseitigung personenbezogener Herrschaft und Willkür
• Einführung der Arbeitszeitverordnung mit dem Achtstundentag
• Einführung von Erwerbslosenfürsorge und Arbeitslosenhilfe
• Tarifvertragsverordnung: der Tarifvertrag hat Vorrang vor einem Einzelarbeitsvertrag
• Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der abhängig Beschäftigten.
• Verbot „gelber Gewerkschaften“
• Koalitions- und Versammlungsfreiheit
• Kündigungsschutz, Arbeitsschutzbestimmungen, Mutterschutz
• das Sozialisierungsgesetz gibt der Regierung die Möglichkeit, geeignete wirtschaftliche Unternehmen insbesondere zur Gewinnung von Bodenschätzen oder zur Ausnutzung von Naturkräften per  Entschädigung in eine Gemeinwirtschaft zu überführen. Das Kohlesyndikat und der Kalibergbau werden sozialisiert. Die Reichsregierung stellt fest:
„Das Reich wird dafür sorgen, dass überall nach den Forderungen des
Gemeininteresses und nirgends im kapitalistischen Profitinteresse
gewirtschaftet wird. Und das ist Sozialismus!“
Zu Beginn der Weimarer Republik hatten zahlreiche Streiks die Verteidigung der sozialen Errungenschaften des Novembers 1918 zum Ziel, insbesondere des Achtstundentags. An vielen Stellen wurden Reformen wieder eingeschränkt oder beseitigt. Eine direkte Demokratie mit einer vergesellschafteten Wirtschaft hätte die Errungenschaften der Revolution abgesichert – so hingegen konnten sich die alten Strukturen wieder etablieren.
Die Novemberrevolution blieb unvollendet, denn die Besitzverhältnisse blieben unberührt.

 

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Generalstreik, August 1917

Generalstreik in Braunschweig mit rund 5.000 (15.08.) und 7.000 (16.08.) Beteiligten. Über die Forderungen nach Verbesserung der Versorgung hinaus standen auch politische Forderungen auf der Tagesordnung:
– grundlegende Reform des Wahlrechts
– Wahlrecht für Frauen
– Aufhebung des Belagerungszustandes
– Koalitionsrecht, Vereins- und Versammlungsrecht
– Beendigung des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen,
– Befreiung aller wegen politischer und militärischer Vergehen Verhafteter und Verurteilter, ebenso solcher Personen, die wegen Lebensmittelunruhen verurteilt worden waren sowie die Zusage, dass niemand, der am in irgendeiner Weise am Streik beteiligt war, gemaßregelt, zum Militär eingezogen oder strafrechtlich verfolgt werde

Träger der Protest- und Streikbewegungen waren vor allem Frauen, Jugendliche und Rüstungsarbeiter, die einen Ernährungsausschuss forderten, in dem Vertreter der Arbeiter gleichberechtigt teilnehmen und für eine gerechtere Verteilung der Lebensmittel sorgen sollten.

16. August 1917

Der kommandierende General von Hänisch verbietet mit Bezug auf Streiks im Herzogtum Braunschweig per Bekanntmachung Arbeitsniederlegungen in der Rüstungsindustrie. Wer als wehrpflichtiger Arbeitnehmer seine Arbeit nicht bis zum 17. August 7 Uhr wieder aufnimmt, wird zum Heeresdienst eingezogen und untersteht Militär- und Kriegsgesetzen. Falls erforderlich werden die Betriebe unter militärische Leitung gestellt, gegen die zu handeln von außerordentlichen Kriegsgerichten bestraft wird.

Die Behörden gingen repressiv gegen die Streikenden in Braunschweig vor:
– Verhaftungen und Einsetzung eines außerordentlichen Kriegsgerichts,
– Einziehung der wehrpflichtigen Streikenden zum Heeresdienst
– Kommandierung zur Arbeit gegen Soldatensold
– Versammlungs- und Publikationsverbote (Zensur)

Die Unternehmensleitungen, allen voran die Firma Büssing, unterstützten die Militärbehörden, indem sie der Polizeidirektion bereits am ersten Streiktag eine Liste mit den Namen aller Streikenden, ihrem Wohnort und ihren Militärverhältnissen überreichten.

 

Im Betrieb. „Das Proletariat und der Kapitalismus“, Teil 1

Die Fabrik
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren auch in Braunschweig viele Industriebetriebe entstanden. Die Arbeitsbedingungen waren jedoch recht unterschiedlich. So gab es zum einen den Fahrzeug-, Maschinen- und Anlagenbau (Büssing, Jüdel, Luther, Wilke, Amme/Giesecke/ Konegen) mit einer breiten Palette an handwerklich orientierter qualifizierter Arbeit. Die Jutespinnerei hingegen beschäftigten Hunderte ungelernter Arbeiterinnen. Die Konservenindustrie belebte zwar die Metallverarbeitung, die Arbeit lag aber vor allem im Herrichten der Agrarprodukte und wurde hauptsächlich von Frauen in Saison- oder Heimarbeit erledigt.

Die Industriearbeiterschaft wehrte sich gegen geringe Löhne, Akkordarbeit, lange Arbeitszeiten, konjunkturelle Erwerbslosigkeit und autoritäre Betriebsführungen immer häufiger mit Streiks und Demonstrationen.

Die Gewerkschaftsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Im März 1892 fasste der von der Generalkommission nach Halberstadt einberufene Gewerkschaftskongress einen richtungsweisenden Beschluss. Nach heftigen Debatten sprach sich die Mehrheit der Delegierten für die Bildung von Zentralverbänden aus. Die lokale Organisationsform und das Vertrauensmännersystem sollten aufgelöst werden. Doch mit der Entscheidung von Halberstadt waren längst nicht alle Organisationsfragen beantwortet. Nicht entschieden etwa wurde die Frage, ob Gewerkschaften Berufsverbände oder Industrieverbände werden sollten, sich also am ständischen Handwerk oder den neuen Industriebetrieben orientieren sollten. In einem Industriebetrieb arbeiten oft verschiedenste Gewerke gemeinsam. Daher die Forderung: Ein Betrieb – eine Gewerkschaft!
Der Deutsche Metallarbeiterverband mit über 500.000 Mitgliedern war der größte Einzelverband der Freien Gewerkschaften, gefolgt von den Verbänden der Bauarbeiter, der Bergleute, der Holzarbeiter und der Textilarbeiter.

Die deutsche Gewerkschaftsbewegung war seit dem 19. Jahrhundert in eine liberale, eine christliche und eine sozialistische („Freie“) Richtung gespalten.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine bezeichneten sich selbst als „volkstümlich-freiheitlich“ oder „freiheitlich-national” und mit dem „Eintritt in den Gewerkverein bekennt sich jeder als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen”.
Wegweisend für die Gründung christlicher Gewerkschaften war eine Enzyklika des Papstes, der sich 1891 für Sozialreformen aus christlicher Nächstenliebe und für die Gründung christlicher Arbeitervereine ausgesprochen hatte. Auf dem Krefelder Kongress 1901 gründeten 23 Organisationen mit etwa 84.000 Mitgliedern den Gesamtverband.
Außerdem gab es noch die sogenannten „gelben Gewerkschaften“. Sie wandten sich gegen die von den „roten Gewerkschaften“ vertretenen sozialistischen oder sozialdemokratischen Ideen. Sie stellten eine Vereinigung von Arbeitnehmern dar, die den gewerkschaftlichen Kampf ablehnten, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Unternehmern anstrebten und von diesen moralisch und finanziell unterstützt wurden.
In Deutschland kam es um 1905 zur Gründung erster gelber Gewerkschaften, so zum Beispiel bei Siemens oder unter Metallarbeitern in Augsburg. Kurz nach der Revolution verpflichteten sich die damaligen deutschen Arbeitgeberverbände im Stinnes-Legien-Abkommen, ihre bisherige Unterstützung für die gelben Gewerkschaften einzustellen.

In der Weimarer Republik hatten die Freien Gewerkschaften, die sich im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossen hatten, die meisten Mitglieder. Der ADGB war ein Zusammenschluss von 52 Gewerkschaften und durch Kooperationsverträge mit dem Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund (ADB) verbunden. Seinen Namen mit dem Zusatz „Allgemeiner“ erhielt er, da im März 1919 die christlichen und liberalen Gewerkschaften mit der Gründung eines eigenen Dachverbandes den Namen Deutscher Gewerkschaftsbund bereits besetzt hatten.

Gewerkschaften und der Kampf um soziale Rechte
Eine Form demokratischer Mitbestimmung im Betrieb war um die Jahrhundertwende kaum vorgesehen. Voraussetzung für die Gegenwehr gegen die schlechten Arbeitsbedingungen bildete ein bereits hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad:
1907 waren im Herzogtum Braunschweig 37 Prozent der IndustriearbeiterInnen gewerkschaftlich organisiert. Im Jahr zuvor kam es zu rund 1.000 Streiktagen. Dagegen setzten die Unternehmer sechs
Aussperrungen und das Herzogtum sieben Polizeieinsätze sowie sechs Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.
1910 wurden 25 Streiks durchgeführt. Bestreikte Unternehmen versuchten durch die Anwerbung von Arbeitern außerhalb des Braunschweiger Landes, die Streiks zu unterlaufen. Für die streikenden ArbeiterInnen waren das Streikbrecher. Sie wehrten sich, indem sie mit Aktionsgruppen die Fremden am Bahnhof in Empfang nahmen, über ihre Streikziele aufklärten und an der Arbeitsaufnahme hinderten.

Streik oder nicht Streik?
Mit der Zentralisierung von Gewerkschaften im Verlauf der Jahrzehnte vor dem Krieg konnte durch überbetrieblich und überregional organisierte Arbeitskämpfe die soziale Lage der lohnabhängigen Menschen allmählich verbessert werden.
Doch zu Beginn des Krieges versagten die Gewerkschaften ebenso wie die große Arbeiterpartei SPD. Die Spitzenfunktionäre der Arbeiterorganisationen hatten sich seit August 1914 in die nationalistische Kriegsbegeisterung eingereiht. Im sogenannten „Burgfrieden“ beschlossen sie, nicht mehr zu Streiks aufzurufen. Als Gegenleistung wurden Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre nicht nur vom Kriegsdienst an der Front freigestellt, sondern erhielten mit dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ ab 1916 in den sogenannten Kriegsausschüssen auch ein beschränktes Mitspracherecht in der Organisation der Kriegswirtschaft.
Dennoch wurden Streiks zum Beispiel von den Jugendlichen des Braunschweiger „Bildungsvereins“ initiiert oder entstanden spontan. In Berlin und an anderen Orten wurden Streiks autonom organisiert, später politisierte sich die Bewegung und es entstand das Netzwerk der Revolutionären Obleute. Die Braunschweiger Oppositionellen hatten Kontakte zu den Berlinern. Auch in den Braunschweiger Betrieben wurden informelle Strukturen der Arbeiterorganisation aufgebaut.
Die betriebliche Arbeiteropposition beruhte auf einem illegalen Vertrauensleutesystem mit einem Exekutivausschuss, der sich nach den großen Streiks im August 1917 gebildet hatte. Gleichzeitig blieb die
Arbeiteropposition unter dem organisatorischen Dach der USPD.

Streiks in Braunschweig
Mai 1916: „Sparzwangstreik“
Nach einem Erlass der Militärregierung in Hannover, in Arbeiterkreisen kurz „Sparzwangverordnung“ genannt, sollten alle Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren den größten Teil ihres Lohnes als Sparguthaben festlegen. Die Arbeiterjugend Braunschweigs protestierte. Sie mobilisierte am 01. Mai 1916 den Protest auf den Straßen und rief zu Streiks auf. Den Protesten schlossen sich spontan viele Frauen an, die sich aufgrund des stundenlangen Anstehens nach Lebensmitteln bei gleichzeitig unzureichender
und sichtlich ungerechter Lebensmittelverteilung lautstark empörten.
Eine zweite Streikversammlung fand 02. Mai 1916 im „Ölper Waldhaus“ statt. Die Demonstrationen dauerten noch weitere Tage an, in deren Verlauf Lebensmittelgeschäfte geplündert, Fensterscheiben von 70 Privathäusern und 25 Geschäfte demoliert wurden. Die Regierung setzte Militär ein. Nach einigem Zögern schlossen sich die Gewerkschaften den Protesten an und drohten mit einem Generalstreik. Daraufhin zogen die Militärbehörden den Erlass am 06. Mai 1916 wieder zurück. Der erfolgreiche „Sparzwangstreik“ wurde in der Arbeiterbewegung reichsweit als großer Erfolg gefeiert.

Juni 1916: „Liebknecht-Solidaritätsstreik“
Karl Liebknecht war aufgrund seiner Reden gegen den Krieg wegen Hochverrats verhaftet und zu 4 Jahren und 1 Monat Festungshaft verurteilt worden. In Braunschweig streikten rund 9.000 Arbeiter aus den meisten großen Rüstungsbetrieben.

09. und 10. April 1917: „Hungerstreik“ bei der MIAG
700 Arbeiter protestierten gegen die schlechte Ernährungslage. Obwohl zu diesem Zeitpunkt nur dieser Betrieb bestreikt wurde, setzten die Arbeiter eine Zulage durch.

August 1917: Generalstreik
In der Zeit vom 15. bis 18. August 1917 kam es in Braunschweig zum Generalstreik in den großen Betrieben mit rund 5.000 (15.08.) und 7.000 (16.08.) Beteiligten.
Die Forderungen:
• Verbesserung der Versorgung
• Reform des Wahlrechts
• Wahlrecht für Frauen
• Aufhebung des Belagerungszustandes
• Koalitionsrecht, Vereins- und Versammlungsrecht
• Beendigung des Krieges ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen
• Befreiung aller wegen politischer und militärischer Vergehen Verhafteter
und Verurteilter, ebenso solcher Personen, die wegen Lebensmittelunruhen
verurteilt worden waren
• Zusage, dass niemand, der am Streik beteiligt war, gemaßregelt, zum
Militär eingezogen oder strafrechtlich verfolgt werde

Die Regierung setzte ihre Behördenmacht ein und ging repressiv gegen die Streikenden vor, und zwar durch:
• Verhaftungen und die Einsetzung eines außerordentlichen Kriegsgerichts
• die Einziehung der wehrpflichtigen Streikenden zum Heeresdienst
• die Kommandierung zur Arbeit gegen Soldatensold
• Versammlungs- und Publikationsverbote (Zensur)

Unternehmensleitungen, allen voran die Firma Büssing, unterstützten die Militärbehörden, indem sie der Polizeidirektion bereits am ersten Streiktag eine Liste mit den Namen aller Streikenden, ihrem jeweiligen Wohnort und ihren Militärverhältnissen überreichten.

November 1918: Revolution
Arbeiter und Soldaten verbündeten sich. Die Arbeiter riefen den Generalstreik aus und übernahmen mit Hilfe der bewaffneten Soldaten die Macht als „Arbeiter- und Soldatenrat“.

 

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