Der Streit um die Volksbildung, Teil 2

Konfessionsschule, Gemeinschaftsschule oder weltliche Schule.
Mit der Revolution veränderten sich grundlegende Bedingungen des Schulwesens:
• Die Einheit von Kirche und Staat bestand nicht mehr.
• Die kirchliche Schulaufsicht war aufgehoben.
• Religion war nicht mehr Pflichtfach.
• Die konfessionelle Bindung der Lehrkräfte galt nicht mehr.

Nach Auffassung von Linken und Liberalen hatten Braunschweigs Volksschulen daher den Status von „Gemeinschaftsschulen“ – also von Schulen für Kinder aller Glaubenszugehörigkeiten.
Trotzdem war das bekämpfte Gemeindeschulgesetz von 1913 grundsätzlich noch in Kraft. Die häufigen Regierungswechsel im Land Braunschweig während der Weimarer Republik führten in der Folge zu einander widersprechenden „Schulerlassen“:
Der sogenannte Marquordtsche Schulerlass von 1925 betonte, der kirchliche Charakter der braunschweigischen Gemeindeschulen könne „nicht zweifelhaft sein“. Dem habe der gesamte Unterricht Rechnung zu tragen. So waren wieder Schul- und Klassenandachten vorgesehen. Aus der Kirche ausgetretene Kinder wurden währenddessen aus der Klasse geschickt. Dabei wurden sie gelegentlich als „Gottlose“ diffamiert. Auch wurde zuweilen vergessen, sie nach Ende von Gebet und Andacht wieder in den Unterricht zu holen.
Der sogenannte Sieverssche Schulerlass von 1928 hob diesen Erlass kurz und knapp auf, weil er der bestehenden Rechtslage nicht entspreche.
In Braunschweig ist die evangelische Landeskirche in einer schwierigen Situation. Sie hat die Beteiligung an der Staatsmacht verloren und damit auch die Zuschüsse zu den Gehältern der Pfarrer. Auch das Kirchenvolk steht innerlich mehrheitlich nicht mehr zur Kirche. Viele sind nur noch formal Mitglied und nehmen die Dienste der Kirche lediglich zu Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Trauerfeiern in Anspruch.
Es kommt zu einer Kirchenaustrittsbewegung. Der einseitige politische Kurs der Landeskirche und vor allem das „Weltkriegserlebnis“ veranlassen viele Mitglieder zum Austritt. Zeitzeugen sagen immer wieder: „Mein Vater hat gesagt, wenn es Gott gäbe, hätte er diesen Krieg nicht zugelassen.“
So hat das Land 113 Freidenker auf 1.000 Einwohner, die Stadt Braunschweig sogar 15 %. Das ist der höchste Anteil im gesamten Reich.

Das Fach Lebenskunde
Für konfessionslose Kinder tritt das Fach Lebenskunde an die Stelle des Religionsunterrichts. Es soll ethische Grundsätze in kindgemäßer Form vermitteln. Es entspricht heutigen Fächern wie Werte und Normen und Lebensgestaltung–Ethik–Religionskunde. Anhand der Aussagen früherer Schüler und Lehrer lassen sich für Braunschweig folgende Inhalte ausmachen:
• Schöpfungsgeschichte im Sinne der darwinschen Evolutionstheorie
• Religionsgeschichte mit kirchenkritischer Tendenz
• Geschichte menschlicher Kulturleistungen, Völkerverständigung, Friedenserziehung
• Informationen über andere Religionen
• Sexualerziehung
• Themen aus Familienleben, Arbeitswelt und Politik
• gelesen werden u.a.: B. Traven, J. London, B. Brecht, E. Kästner, E. M. Remarque, „Die Höhlenkinder“
1922 werden 32 Sammelklassen für die vom Religionsunterricht befreiten Kinder eingerichtet. 1925 nehmen im Freistaat 2.100 Schüler am lebenskundlichen Unterricht teil. Die Schulraumsituation wird wegen der Nachmeldung von 300 weiteren Schülern unzumutbar.

Die weltlichen Schulen
Ab 1926 kommt es zur Einrichtung von insgesamt sechs weltlichen Schulen: In Braunschweig die Schulen Maschstraße, Ottmerstraße, Bürgerstraße und 1927 Bültenweg. 1926 kommen im „Proletariernest“ Schöningen und 1928 in Wolfenbüttel zwei weitere weltliche Schulen hinzu. Bis 1930 steigen die Schülerzahlen hier permanent: In Braunschweig auf 2.945, in Schöningen auf 285. In Wolfenbüttel auf 342 Schüler. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Schüler an den evangelischen Schulen.

An den weltlichen Schulen wird in den wenigen Jahren ihres Bestehens alles ausprobiert, was die nationale und internationale Schulreform der Zeit auszeichnet. Die Voraussetzungen dafür sind gut.
Die Lehrer sind jung und reformfreudig. Sie haben an der Technischen Hochschule eine ausgezeichnete Ausbildung bekommen. Schüler und Eltern identifizieren sich mit der Schule. Die befragten Schüler erinnern sich mit Respekt und Freundschaft, ja liebevoll, an ihre Lehrer.
Die Schule wird zur Wohn- und Werkstatt für moderne Formen und Inhalte von Unterricht und Schulleben umgestaltet. Die Schule Bültenweg z.B. entwickelt einen naturwissenschaftlich-technischen Schwerpunkt.
Ein eigenes Geschichtsbuch „Geschichtsbilder“ wird von einem der Lehrer 1929 vorgelegt. Der im März 1930 vorgelegte Bildungsplan fasst Grundsätze schulreformerischer Arbeit in Braunschweig zusammen.
Ab 1931 führt der aufkommende Nationalsozialismus zur „Säuberung“ von Schule und Lehrerausbildung und zum Abbau weltlicher Schulen. Ihre Prinzipien werden später in der Alternativschulbewegung und in Teilen in den Regelschulen wieder aufgegriffen.

Akademisierung der Lehrerbildung
Ein guter Schüler braucht bestmöglich ausgebildete Lehrer. Nach 1918 werden die Lehrerseminare in höhere Schulen umgewandelt – in Braunschweig das Lessinggymnasium. Die Volksschullehrer sollen eine akademische Ausbildung an der Technischen Hochschule erhalten. Damit wird 1927 begonnen. Vorbereitend wird die zweite Phase der Ausbildung (das heutige Referendariat) von 1921 bis 1928 an der TH angesiedelt. So werden wissenschaftliche Fortbildung und praktische Schularbeit vereint. Zu diesem Zweck werden alle Junglehrer des Freistaates in die Stadt Braunschweig versetzt. Zugleich werden die besten Lehrer des Landes an die sogenannten Institutsschulen berufen, die ab 1927 den praktischen Teil des Studiums übernehmen.
Ab 1929 wird auch die Ausbildung von Mittel- und Berufsschullehrern an der TH angesiedelt.

Zur Entwicklung der Berufsschule
Braunschweig ist auch in dieser Entwicklung Vorreiter. Im Berufsschulgesetz des Landes von 1929 heißt es, dass der Staat Träger der Berufsschule sei. Die Berufsschule diene der Erfüllung der Schulpflicht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres – im Reich wird die allgemeine Berufsschulpflicht erst 1938 eingeführt. Damit ist die Fertigstellung des Berufsschulgebäudes Inselwall verbunden. Gleichzeitig wird die Ausbildung der Gewerbeoberlehrer an der TH geregelt.

Mit den Reformen zur Lehrerbildung und Berufsschule erregt Braunschweig deutschlandweit Aufsehen. Die Maßnahmen werden als beispielhaft und als „konsequente republikanische Schulpolitik“ gefeiert.



Arbeiterbildungsvereine
Bildung war für die Arbeiterbewegung immer ein Hauptthema. In einer 1872 vor dem neugegründeten Arbeiterbildungsverein in Dresden gehaltenen Rede mit dem Titel „Wissen ist Macht“ sagte Wilhelm Liebknecht:
„ ‚Durch Bildung zur Freiheit’ das ist die falsche Losung, die Losung der falschen Freunde. Wir antworten: Durch Freiheit zur Bildung! Nur im freien Volksstaat kann das Volk Bildung erlangen. Nur wenn das Volk sich politische Macht erkämpft, öffnen sich ihm die Pforten des Wissens.“
Für Liebknecht handelte es sich damals nicht um eine pädagogische, sondern um eine politische Aufgabe:
„Der heutige Staat und die heutige Gesellschaft, die wir bekämpfen, sind Feinde der Bildung. (…) Verzichten wir auf den Kampf, auf den politischen Kampf, so verzichten wir auf die Bildung, auf das
Wissen. (…) Wissen gibt Macht, und weil es Macht gibt, haben die Wissenden und Mächtigen von jeher das Wissen als ihr Kasten-, ihr Standes-, ihr Klassen-Monopol zu bewahren, und den Nichtwissenden, Ohnmächtigen — von jeher die Masse des Volkes — vorzuenthalten gesucht. So ist es zu allen Zeiten gewesen, so ist es noch heute.“
In den Arbeiterbildungsvereinen verbanden sich Bildungsabsichten (Vorträge, Unterricht, Bibliotheken) mit geselligen und politischen Zielen. So wurden sie zu Keimzellen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung.
In Braunschweig kamen Mitte November 1907 im Lokal „Fürstenhof“ in der Stobenstraße rund 20 Jugendliche zusammen, um den „Bildungsverein jugendlicher Arbeiter Braunschweigs“ zu gründen. Im Herbst 1908 benannte er sich um in „Bildungsverein jugendlicher Arbeiterinnen und Arbeiter.“
Der Bildungsverein kam regelmäßig zweimal in der Woche im Gewerkschaftshaus zusammen. Jeden Mittwoch fanden Vorträge über die verschiedensten Themen statt und am Sonntag gab es entweder
Ausflüge in die rings um Braunschweig liegenden Wälder oder bei schlechtem Wetter Unterhaltung mit Spiel und Tanz im Saal des Gewerkschaftshauses.
Neben der theoretischen Ausbildung im Sinne der Partei und Gewerkschaften förderte der Verein die „praktische Ausbildung“ der Mitglieder. Stand eine Wahlrechtsversammlung mit Demonstrationen bevor, dann organisierten die Mitglieder die Veranstaltung und mobilisierten die TeilnehmerInnen.

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