Der Streit um die Volksbildung, Teil 1

„Die alte Schule überwinden“
Die Novemberrevolution 1918 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ermöglichten die Realisierung von überfälligen Reformen, die seit der Revolution 1848 von demokratischen Kräften, u.a. von den Lehrervereinen und Reformpädagogen, immer wieder gefordert wurden.

Die Schulpflicht wurde bereits seit der Aufklärung, besonders im 19. Jahrhundert, gefordert. Schulpflichtgesetze waren in dieser Zeit aber eher Absichtserklärungen. Es fehlten meist alle Voraussetzungen zur Durchsetzung der Schulpflicht: Schulgebäude, Lehrer, Lehrpläne, Lehr-  und Lernmittel. Reiche Eltern konnten die Schulpflicht umgehen, indem sie ihre Kinder privat unterrichten ließen.

Die politische Bedeutung der Schulfragen zeigte sich darin, dass sie mit der Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 erstmals Verfassungsrang erhielten.
1920 wurde vom Reichstag das „Grundschulgesetz“ beschlossen. Damit wurde die Grundschule zur Pflichtschule für alle Kinder. Dieses Gesetz gilt als Meilenstein der deutschen Schulpolitikgeschichte. Der wichtigste Schritt war die Abschaffung der gymnasialen Vorschulen, sowie die Durchsetzung der Grundschule als Schule für alle Kinder, als Einheitsschule.

Untertanenerziehung bis 1918
„Die Schulen sind – ähnlich wie das Militär – Stätten der Disziplinierung, der Erziehung zum Fleiß und zur Arbeitsamkeit und schließlich der Ort des Leselernens, das den Untertanen befähigt, die Anweisungen der fürstlichen Verwaltung selbst zu entschlüsseln.“
So fassen die Bildungshistoriker Leschinsky und Roeder zusammen, was Untertanenerziehung bedeutet. Es gehe darum, die Bevölkerung regierbar zu machen. Wichtigster Inhalt war Religion, hinzu kamen Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang, wobei religiöse Texte gelesen und geschrieben sowie Choräle gesungen wurden. Um 1850 wurde Lesen und Schreiben in Landschulen gar nicht gelehrt, da ärmere Eltern das Geld nicht zahlen konnten, das gefordert wurde.

Unter der Überschrift „Der Schulmonarch“ wird aus einer Stadtschule um 1900 berichtet:
„Herr Paulsen ließ es sich nicht nehmen, in dieser Klasse den Rechenunterricht selbst zu erteilen und mit der Einübung des Einmaleins eine solide Leistungsgrundlage herzustellen. Mit barscher Stimme stellte er, Schüler für Schüler der Reihe nach ansprechend, seine Aufgaben; wenn die Antwort nicht auf der Stelle kam, ertönte ein donnerndes ‚Raus‘, und der Pechvogel mußte sich vor der Klasse aufstellen. War Herr Paulsen am Ende angekommen … holte er den Rohrstock, und die lange Reihe der Betroffenen mußte sich tief bücken und die wohlgezielte Quittung für das Versagen in Empfang nehmen.“

Der Kampf um die Schule: Das Beispiel Braunschweig
In Braunschweig war die Reglementierung der Schule, insbesondere auf dem Lande, besonders extrem:
• Die Schulaufsicht hatte das Konsistorium, eine kirchliche Behörde, die aus Geistlichen und Juristen bestand. Im Auftrag des Konsistoriums waren höhere Geistliche im Nebenamt als Schulinspektoren tätig. Direkter Vorgesetzter der Landlehrer war der Ortsgeistliche. Erst ab 1892 gehörte dem Schulvorstand jeder Schule ein Lehrer, also ein Fachmann, an.
• Die Landlehrer waren zum Küsterdienst verpflichtet. Die Aufgaben des Küsters reichten von der Beaufsichtigung der Schulkinder während des Gottesdienstes bis zur Reinigung der Kirche.
• 1902 sollte der niedrige Küsterdienst auf eigens angestellte Küster übertragen werden. Für deren Bezahlung sollten den Lehrern bis zu 50 Mark pro Monat von ihrer ohnehin geringen Entlohnung abgezogen werden.
• Die Zeitung „Volksfreund“ berichtete 1907 von „geradezu himmelschreienden Zuständen“ in Braunschweigs Schulen. So zeigte die Schulstatistik dieses Jahres, dass in 11 Gemeinden ein Lehrer mehr als 120 Schüler zu unterrichten hatte. An der Spitze lag ein Dorf mit 150 Schülern. Nur in 25 % der Landschulen waren weniger als 60 Kinder in einer Klasse.
• „Untertänigst“ vorgebrachte Beschwerden oder Forderungen nach besserer Ausbildung wurden abgeschmettert. Im Landtag erklärte 1876 ein Redner: „Die Schule diene der Kirche und dem Staate. Nicht die Pädagogen, sondern wir sagen, was mit unseren Kindern werden soll.“ Verständnis für den Katechismus sei das Wichtigste. Rechnen, Lesen, Schreiben kämen erst in zweiter Linie. Religion und Kirche seien Ausgang und Mittelpunkt des Lehrers. Daher bedürften auch die Lehrerseminare der kirchlichen Leitung.
• 1916 sorgte eine Dienstanweisung für den „gehobenen“ Küsterdienst für Empörung. In kleinlichster Weise wurden die Pflichten aufgezählt. Zugleich wurden Ehrerbietung und Gehorsam gegenüber dem vorgesetzten Geistlichen eingefordert. Viele Lehrer wurden zu dieser Zeit zum Kriegsdienst eingezogen. Schon bis 1915 waren 40 den „Heldentod“ gestorben. Die Situation an den Schulen verschlechterte sich gravierend.

All dies sowie die Repressionen gegen Lehrer (Entlassungen, Geldstrafen, Verweise), die Verbesserungen forderten oder Klage führten, vergifteten das Verhältnis von Schule und evangelischer Landeskirche nachhaltig. Als langwieriger Streitpunkt erwies sich das Gesetz über die Gemeindeschulen von 1913, das den Einfluss der Kirche in der Volksschule stärkte. Der „Volksfreund“ rief auf zur Demonstration gegen die „endgültige Schulverpfaffung“.

Die höhere Schule war nur zum Teil betroffen. Sie war Schule des privilegierten Bürgertums. Ihr Besuch war die Voraussetzung für Studium und Karriere. Ihre Lehrer hatten ein Studium absolviert. Sie stand unter staatlicher Aufsicht. Heftige Kritik wurde aber an ihrer erzieherischen Ausrichtung geübt. Die Belletristik der Zeit ist voll von selbstgerechten Schulmonarchen, von Prügelpädagogen und Sadisten des Wilhelminismus: Heinrich Manns „Professor Unrat“, Friedrich Torbergs „Gott Kupfer“, Leonhard Franks „Lehrer Dürr“ und die von Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ beschriebenen Gymnasiallehrer sind nur einige Beispiele. Die Kritik war überzeichnet, zeigte aber auch die Notwendigkeit einer am Schüler orientierten Pädagogik auf.

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