„Was gehen uns die Arbeiter an“

Die soziale Lage der Arbeiterfamilien vor dem Ersten Weltkrieg
Im Juni 1909 lehnte es die Mehrheit der Stadtverordneten im Braunschweiger Stadtrat ab, für die Speisung hungernder Kinder 3000 Mark zu bewilligen. „Was gehen uns die Arbeiter an, wir wollen nicht, dass sie aus den Hungerverhältnissen herauskommen,“ so die Haltung der bürgerlichen Stadtverordneten. Die Hungerverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Folge der raschen Entwicklung der industriellen Produktion und des ungezügelten Gewinnstrebens der Unternehmer. Die Zeitung „Volksfreund“ berichtete darüber und prangerte die soziale Lage der Arbeiterfamilien als Verstoß gegen das Menschenrecht und gegen die einfachsten Regeln der Sittlichkeit an.

„Der verbotene Wald“
Um ihren Kindern eine gesündere Umgebung zu bieten, organisierten Partei und Gewerkschaften an den Wochenenden und in den Ferien Kinder- Ausflüge in die Wälder rings um Braunschweig, z.B. in die Buchhorst oder das Lechlumer Holz.

„Die Schulferien stehen vor der Tür. Damit ihr auch in diesem Jahre wieder alle miteinander fröhliche Ferien verleben könnt, haben die Arbeitervereine beschlossen, wiederum wie im vorigen Sommer Ferienausflüge zu veranstalten. Das notwendige viele Geld soll beschafft werden und die Kinderschutzkommission mitsamt dem Bildungsausschuß ist beauftragt, alle Vorarbeiten zu erledigen, den Kuchen beim Bäcker zu bestellen, überhaupt alles notwendige zu besorgen, damit wir wieder in jeder Woche zweimal, vielleicht auch gar dreimal einen schönen Ausflug machen und dann, nach einem leckeren Kaffee- und Kuchenschmause, recht lustig im Walde spielen können…“ (Beilage zum Volksfreund, 25.06.1914)

Während in Frankfurt und Berlin städtische Mittel zur Verfügung gestellt wurden, mussten in den meisten Städten Spenden für die Durchführung gesammelt werden. Die Ausflüge und Spaziergänge waren zugleich ein Stück Arbeiterkultur – man traf sich, informierte sich, tauschte sich aus, es wurde gesungen. Im Juli 1914 verbietet das Herzogliche Forstamt die Kinderausflüge. Der „Volksfreund“ schreibt über den „verbotenen Wald“. Die Auseinandersetzung darüber erregte weltweit Aufsehen bis hin zu einem Artikel in der „New York Times“. Die Waldfreizeiten der Arbeiterkinder wurden wieder gestattet.

Der Krieg verschlimmert die Zustände extrem
Vor dem Krieg importierte das Deutsche Reich 20 Prozent seiner Lebensmittel aus dem Ausland. Nun schränkte die alliierte Wirtschaftsblockade die Zufuhren fast vollständig ein. Trotz der Bedeutung einer gesicherten Lebensmittelversorgung für die „Kriegsmoral” fehlten auch in Deutschland bis Kriegsbeginn entsprechende Planungen und Vorbereitungen für einen längeren Krieg. In Erwartung eines schnellen Sieges wurden selbst die normalen Nahrungsmittelvorräte schon in den ersten Kriegsmonaten verbraucht. Auf dem Land fehlten männliche Arbeitskräfte und Zugpferde, die ebenfalls Kriegsdienste verrichten mussten. Fehlende Düngemittel und Missernten sowie die Unfähigkeit der Behörden, eine gerechte Verteilung sicherzustellen, verschärften die Versorgungslage zusätzlich. Bereits im Kriegsjahr 1915 gab es über 80.000 Hungertote im Reichsgebiet. Um die Getreidevorräte zu strecken, wurde das „K-Brot“ eingeführt, das einen 30-prozentigen Kartoffelanteil erlaubte.

Im Rahmen der Getreidebewirtschaftung gaben die Behörden im Frühjahr 1915 Brotkarten an die Bevölkerung aus, so auch in Braunschweig. Als Folge des Mangels blühte das Schwarzmarktgeschäft auf, das damals „Schleichhandel“ genannt wurde. Hochwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Butter und Eier wurden für Arbeiter, Handwerker und kleine Beamte in den Großstädten zu unerschwinglichen Luxusartikeln. Nur vermögende Privatpersonen konnten sich zusätzliche Nahrungsmittel besorgen. Um eine leistungsfähige Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten und um Radikalisierungen der Arbeiter zu vermeiden, waren alle in den Rüstungsbetrieben Beschäftigten zuschlagsberechtigt. Betriebsküchen wurden bevorzugt beliefert. Bauern begannen, ihre Produkte zurückzuhalten, um sie über den profitableren Schleichhandel zu verkaufen. In den langen Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften in Braunschweig beobachteten Arbeiterfrauen mit Empörung, wenn ein Lehrling Fleisch- und Wurstpakete in die „besseren“ Stadtviertel brachte.

In der öffentlichen Versammlung des sozialdemokratischen Vereins am 2. November 1915 im Saal des Wilhelmsgarten wurde eine Deputation unter Minna Faßhauer beauftragt, dem Herzoglichen Ministerium Forderungen zur Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung vorzulegen. Einen dramatischen Höhepunkt erreichte die miserable Lebensmittelversorgung im Winter 1916/17, der zudem als kältester Winter des Krieges als „Kohlrübenwinter“ in die Erinnerung einging.
Das Volk hatte pro Kopf und Tag 3 Scheiben (160 Gramm) minderwertiges, vornehmlich aus Steckrüben gefertigtes Brot, 19 g Fleisch und Wurst, die mit Sägespänen gemischt war, und 7 Gramm Margarine zur Verfügung.

1917 musste die Masse der großstädtischen Bevölkerung von Nahrungsmittelzuteilungen leben, die weniger als die Hälfte des damals ermittelten Existenzminimums betrugen. Das durchschnittliche Körpergewicht der städtischen Bevölkerung sank um rund 20 %. Die Lebenshaltungskosten erhöhten sich gegenüber 1900 auf 329 %. Während des Ersten Weltkriegs starben in Deutschland rund 750.000 Menschen an Unterernährung und an deren Folgen (Anfälligkeit für Tuberkulose, „Blutarmut“ vor allem bei Kindern u.a. Krankheiten bis hin zum Siechtum). Als im Sommer 1918 auch eine Grippeepidemie in Europa ihren Höhepunkt erreichte, fielen vor allem die geschwächten Zivilisten der Krankheit zum Opfer.

Proteste und Aktionen gegen Krieg und Mangelverwaltung
Die allgemeine Not bestärkte die Menschen in ihrer Protestbereitschaft. Im Herbst 1915 kam es im gesamten Kaiserreich zu Hungerkrawallen. Frauen demonstrierten für „Frieden und Brot“, stürmten Rathäuser und plünderten Lebensmittelgeschäfte. Obwohl Streiks und Proteste gegen den Krieg verboten waren, erlebte Braunschweig 1916 den „Sparzwangstreik“, 1917 einen „Hungerstreik“ von 700 Arbeitern bei der Braunschweiger MIAG. In der Zeit vom 15. bis 18. August 1917 kam es zum Generalstreik in den großen Betrieben. Über die Forderungen nach Verbesserung der Versorgung hinaus standen auch politische Themen auf der Tagesordnung. Die Streiks und Demonstrationen standen unter dem Motto „Friede! Brot! Freiheit!“
Träger der Bewegungen waren vor allem Frauen, Jugendliche und Rüstungsarbeiter, die einen Ernährungsausschuss forderten, in dem Vertreter der Arbeiter gleichberechtigt teilnehmen und für eine gerechtere Verteilung der Lebensmittel sorgen sollten. Diese Proteste bereiteten die Revolution vor.

Mit der Revolution sollten Zustände geschaffen werden, in denen die Arbeiterfamilien nicht mehr von den Almosen der Reichen und der Gunst der Mächtigen abhängig wären. Bessere Arbeitsbedingungen mit Arbeitsschutz, kürzeren Arbeitszeiten, besserer Entlohnung sollten auch die Lebens- und Wohnbedingungen verbessern. Mehr Freizeit durch den Achtstundentag sollte auch die Lebensqualität und Bildungsmöglichkeiten steigern. Der Schriftzug der roten Fahne, die auf dem Schloss gehisst wurde, gab der Sehnsucht Ausdruck: „Die Zukunft, die wird unser sein!“

Nach dem 8. November 1918 war der Hunger nicht so schnell vorbei. Die Bekämpfung des Mangels und Sicherstellung der Versorgung wurde eine der dringendsten Aufgaben für die Revolutionäre. Aus den Tätigkeitsberichten der Arbeiter- und Soldatenräte:

Der Arbeiter- und Soldatenrat H. Meier aus Deensen berichtet am 21.12.1918:
„Wir unterdrücken hier den Schleichhandel mit Esswaren, Fleisch, Mehl, Butter usw., die wir den Hamsterern abnehmen und zur Verteilung bringen, dabei werden die Kranken hauptsächlich berücksichtigt. Bei den Bauern haben wir die Getreidevorräte nachgesehen und findet jetzt eine Viehzählung statt, damit keine Geheimschlachtungen vorkommen können. Da mehrfach Diebstähle vorgekommen sind, geht jetzt jede Nacht ein Posten durchs Dorf.“
Aus einem anderen Ort wird am 14.01.1919 berichtet:
„In Mackendorf wurde eine Geheimschlachtung bei dem früheren Landtagsabgeordneten Landwirt Strauß entdeckt. Beschlagnahmt wurden 120 Pfund Fleischwaren, gleichzeitig wurden hierselbst zwei Pferde beschlagnahmt. Bei einer hier abgehaltenen Treibjagd wurden 28 Hasen erlegt, die der allgemeinen Volksernährung zugeführt wurden.“

Weiter zu: Im Betrieb. „Das Proletariat und der Kapitalismus“

03. November 1918

Die MSPD organisierte im Wilhelmsgarten eine Veranstaltung, auf der der Reichstagsabgeordnete Gustav Noske (MSPD) zu den Versammelten über das „neue Deutschland“ sprach, indem er eine Demokratisierung durch eine neue Verfassung, die grundlegende Reformierung des Wahlrechts und die Errichtung eines Strafgerichtshofs, um die für den Krieg Verantwortlichen anzuklagen, in Aussicht stellte, im weiteren ebenso gegen das „bolschewistische Chaos durch Entfesselung des Bürgerkrieges“ Stellung nahm. Außerdem müsste der Kaiser zurücktreten (BLZ 03.11.1918). (Unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Berlin ließ ihn Ebert am Tag darauf nach Kiel reisen, um den Matrosenaufstand unter Kontrolle zu bringen).

Die USPD organisierte am selben Tag (03.11.) eine Versammlung auf dem Leonhardplatz, auf der der gerade aus der Haft entlassene Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht (USPD und Spartakusmitglied) sprechen sollte. Aufgrund der Ereignisse in Kiel reiste Liebknecht zur Marinestadt, so dass war August Merges als Sprecher der USPD / Spartakus auftrat. Merges verkündete vor mehreren tausend Zuhöhrern, dass die „Übernahme der Macht durch die Klasse der Werktätigen“ unmittelbar bevorstünde und fügte hinzu: “Vielleicht in den nächsten Tagen wird man euch wieder gebrauchen. (zit.n. Bein, Herzgtm, 238)

Augenzeugenbericht:

„Und 8 Tage bevor es hier losging, den Sonntag zuvor, das muss ich noch erzählen. Das war auch sehr schön. Da kam also eines Abends August Merges zu mir, ich weiß nicht mehr wo wir uns getroffen haben, – sagt der: du musst morgen früh um 9 Uhr, da musst du auf der Kuhstraße sein bei dem Pferdehändler da. Ja, ist gut. Wurde nicht gefragt: warum? weshalb? wieso? Da war irgendwas im Busch. Komme da hin; August Merges ist schon da. Und da verhandelt der schon mit dem Pferdehändler, dass er einen Breakwagen [Kutschenart] kriegt und ’nen Gaul davor. Also da sollte dann die große Versammlung, die öffentliche Versammlung auf dem Leonhardtsplatz steigen. Da sollte auch Karl Liebknecht sprechen. Und August zu mir: du setzt dich jetzt auf den Kutschbock und fährst mich nach dem Leonhardtsplatz. Der Breakwagen, der sollte nämlich die Rednertribüne werden. Ich sage: Mensch August! Ich habe noch nie Pferdezügel in der Hand gehabt. Setz dich man da drauf. Der Pferdehändler: ach, das ist ein treues Tier, da können Sie ruhig mit losfahren; rechts und links kennen Sie ja, nicht wahr, dann ziehen Sie rechts oder links, wo er hin soll. Ist gut. (…) Wir kamen dann von der Kastanienallee über Altewiekring zum Leonhardsplatz: eine Riesenmenschenmenge da. Oh, sagt August, sind ja ein paar Leute da. Aber leider – Robert Gehrke, der funktionierte damals als Kurier immer zwischen Berlin und Braunschweig vom Spartakusbund. Der kam mit dem Bescheid, dass also Karl Liebknecht nicht kommen kann, weil er dringend in Berlin gebraucht wird. Wir hatten Verständnis dafür. Das war natürlich ein bißchen enttäuschend für die Versammlungsteilnehmer, aber es wurde ihnen dann erklärt. Na ja, sie waren zufrieden und dann hat August Merges referiert. Und das war der eigentliche Auftakt; also die Bereitschaft, diese kommenden Ereignisse nun als gegeben zu betrachten, das war gut für uns, für die ganze Stimmung. Die wussten also, das muss jetzt irgendwie vorbei sein.“

Wilhelm Hillger (in: Braunschweig 1918. Illustrierte Zeitung zur Geschichte der Braunschweiger Arbeiterbewegung, HBK 1978)